Die noch wenigen stehenden Häuser starrten aus schwarzen fensterlosen Löchern auf menschenleere Straßen. Barocke Fassaden lagen mit dem Gesicht auf der Erde. Niedergeworfen wie Pappmachekulissen einer Theaterstadt. Stille. Windstille. Totenstille. Diese Stille drängte sich zwischen die Ruinen. Ich blickte zum Himmel, als könnte ich Orientierung finden, dort wo einmal eine strahlende Sonne und ein sanft schimmernder Mond im Wechsel von Tag und Nacht schienen. Was ich sah, war ein betongraues Gewölbe. Zumindest schien dieses Etwas wie ein Gewölbe, wie eine Glocke über die Stadt gestülpt. Trübes Licht. Welcher Tag war heute? War Tag? War Nacht? Wie viel Zeit vergangen? Seit wann? Ich konnte mich nicht erinnern. Nur daran, dass alles einmal anders war. Die Luft frisch, nicht staubig. Die Straßen belebt, nicht tot. Die Stadt bunt, nicht grau. Ein Grau, so ausgeblichen, als hätte eine gewaltige Sonne alle Farbe aus den Dingen gezogen. Da sah ich vor mir einen kahlen Baum. Seine schwarzen verkohlten Äste deuteten in das graue Gewölbe. Selbst dieser tote Baum, der Beweis ehemaligen Lebens, schien mir ein Hoffnungsschimmer. Ungläubig ging ich darauf zu, zögernd. Als ich vor dem Baum stand, zerfiel diese Illusion einer Hoffnung vor meinen Augen zu Staub. Staub, der verwehte. Verwehte mit dem Schrei meiner Verzweiflung. Dieser Schrei, so fremd, so laut, so nah. Ich wollte mir die Ohren zuhalten. Griff mir an den Kopf und in die Haare und hielt diese augenblicklich büschelweise in den Händen. Ungläubig spreizte ich die Finger. Ließ die Haarsträhnen zu Boden sinken. Fasste wieder nach meinem Kopf, immer wieder bis er sich kahl und glatt anfühlte. Ich schlug meine Hände vors Gesicht. Spürte etwas Klebriges an meinen Fingerspitzen. Besah es, roter Farbe gleich. Ich roch daran. Es war Blut, mein Blut? Ich spürte keinen Schmerz. Da setzte mich etwas unvermittelt in Bewegung. Es war, als würden unsichtbare Fäden an mir ziehen, meine Beine heben, meine Arme schwenken und mich vorwärts führen, einem mir unbekannten Ziel entgegen. Verwundert sah ich mich gehend nach diesem Puppenspieler um, der mich über aufgeworfenen Asphalt steigen und Erdlöcher umrunden ließ. Ich stolperte. Ein Kopf, sauber abgetrennt vom Rumpf lag zu meinen Füßen. Sandsteinern suchten seine Augen den unter Betongrau verborgenen Himmel. Ich wurde weiter geführt, überschritt die Obere Brücke, die hinter mir dumpf polternd in das ausgetrocknete Flussbett stürzte. Ich blickte zurück, sah den Staub sich langsam über die Trümmer legen, wie ein Leichentuch die Konturen sanft nachzeichnend. Dann setzte mich wieder etwas in Bewegung. Mitten durch die Ruinen und Trümmer der Altstadt folgten jetzt meine Füße einer freigefegten Spur bis zu den Stufen am Katzenberg. Unsicher, immer darauf gefasst, dass alles um mich herum und unter mir wegbrechen könnte, stieg ich hoch. Oben ragte mahnend ein Turm in das Betongrau. Einer von einst vier Geschwistern. Der Rest dessen, was einmal der Dom war, lag als ein gewaltiger Haufen Sandsteinquader vor mir. Der Anblick erinnerte mich an durcheinander gewürfelte Bauklötze, wie von einem zornigen Kind umgestoßen. Ich schloss die Augen. Müde resigniert sank mein Kopf auf die Brust. Die Augen wieder öffnend blickte ich auf ein Stück erhaltenes Straßenpflaster. Unwillkürlich entstand ein Bild. Das Bild von Bamberg an einem Sommerabend. Überall Menschen, Lachen, dieses fluppende Geräusch langsam über Kopfsteinpflaster rollender Autoreifen. Ich hob den Kopf. Die Augen vorwärts gerichtet und schon zerplatzte das Bild des Sommerabends wie eine Seifenblase in meinem Kopf. Mir war, als hörte ich dieses Platzen. Angestrengt mit gerunzelter Stirn versuchte ich seinem Echo zu lauschen. Stille. Als sich die Falten auf meiner Stirn wieder glätteten, lösten sich dabei kleine Verhärtungen, pulverisierten und rieselten über mein Gesicht. Ich blinzelte. Die Reste einer Blutaschegesichtsmaske fingen sich in meinen Wimpern. Als ich mit der rechter Hand zum rechten Auge griff, hielt ich meine Wimpern zwischen Zeigefinger und Daumen. Mechanisch öffneten sich die Finger und ich sah, wie diese feinen Härchen langsam zur Erde fielen. Langsam und immer langsamer, als würde die Erde ihre anziehende Kraft verlieren. Mir kam der verwegene Gedanke, ob nicht diese Härchen durch meinen Blick gebannt werden. Da riss mich der unsichtbare Puppenspieler aus meinen Überlegungen. Er zog die Fäden meiner linken Hand und so griff diese zum linken Auge, fasste energisch nach dem Augenlid und ließ Wimpern achtlos, einer Zigarettenkippe gleich fallen. Meine Füße folgten wieder der Spur, die wohl auch der große Puppenspieler frei gefegt hatte. Ob noch mehr Menschen, marionettengleich durch diese Stadt gingen? Der Gedanke an mögliche Begegnungen stürzte mich in eine Sintflut aus Gefühlen. Einem freudigen Erschrecken, weinender Erleichterung, maßloser Furcht und lähmender Angst. Plötzlich stand ich inmitten dessen was einmal der Rosengarten gewesen war. Ich ging bis zur Brüstung, die nur noch aus Mauerresten bestand. Mir wurde schwindelig. Ich wich einen Schritt zurück. Der Panoramablick über das weite Trümmerfeld vor mir, mit vereinzelt aufragenden Ruinen abgedeckter Häuser und ihrer schwarz verkohlten Dachstühle, verstärkte das Schwindelgefühl. Ich wollte mich auf einem Mauerrest abstützen. Doch wo waren meine Hände? Die Arme handlos von mir gestreckt starrte ich auf meine Unterarmstümpfe. Ich wollte schreien. Doch kein Ton drang aus meiner Kehle. Unheimliche Stille. Langsam sog diese Stille meinen Körper in sich auf.
Ich verschwand.
Cornelia Stößel
© 15/04 Copyright 2016
Aus: Die Textweber – Bamberg
ISBN: 978-3-940821-55-3
9,00 €
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