Weiberfasching

Donnerstag, 18:30 Uhr, Kirchgasse 14, 2. Stock

Durch das gebrochene Glas des kleinen Badezimmerfensters konnte man undeutlich die Silhouette einer erwachsenen Person erkenne. Aber wer stiert schon auf ein beleuchtetes Badezimmerfenster mit gebrochenem Glas? Dahinter … in freudiger Erwartung des kommenden Abends, die Beine sorgfältig und langsam rasierend. Bahn für Bahn den Schaum und die Haare abtragend. Die Klinge unter dem laufenden Strahl des Wasserhahns abspülend. Routiniert durch tägliche Übung und doch ungewohnt. Die glattrasierten Beine vor dem Spiegel begutachtend, pudernd. Dann, die Perlonstrümpfe über die langen, schlanken Beine ziehend. Erst den einen, dann den anderen. Diese zarte glänzende zweite Haut kurz liebkosend. Ein kritischer Blick auf den weißen Kittel am Kleiderbügel. Den Kittel vorne zuknöpfend, darunter, der Optik wegen ein BH, der ein bisschen mehr hermachte – als vorhanden. Dann die Perücke. So praktisch. Immer gut frisiert. Rotbraune Locken ins Gesicht gezupft, sehr kess. Das Stethoskop um den Hals gelegt. Mundschutz – musste heute sein. Die grünen Augen, stark umschminkt.

Eine Krankenschwester. Sie lächelte aus dem Spiegel ihr Gegenüber an. Dann ein letzter kontrollierender Blick durch rot gefasste Brillengläser in den offenen Maulbügelverschluss der handlichen Tasche. Obenauf lagen, erschreckend echt, eine Spritze mit Glaskolben, ein Skalpell und Gummihandschuhe. Das Verschließen dieses kleinen Koffers, mit geübtem Griff. Ein tiefes Durchatmen. Anspannung.

In gummibesohlten weißen Schnürschuhen, leichtfüßig und nahezu lautlos, stieg sie in den alten Aufzug. Betätigte eine Taste. Das Licht im Flur erlosch.

19:30 Uhr Ecke Friedrichstraße – Albertallee

Die Straßenlaterne flackerte, ein müdes Flackern. Aus der Friedrichstraße kam der Krankenschwester eine Gruppe junger Mädchen entgegen. Lässig trugen sie die Jacken und Mäntel nur über die Schultern gelegt. Offen, damit netzbestrumpfte Beine, Baströckchen und Bikini-Oberteile zur Geltung kamen. Kichernd, giggernd, albernd und ein wenig beschwipst. „Helau! Helau!“, rief Mia, eine von ihnen und wedelte mit ihrer Kunstblumenkette. „Lasst uns wieder reingehen.“, bibberte Jule, eine große Blonde, die nicht so recht als Hawaii-Mädchen überzeugen konnte. „Du Memme!“, stichelte Sophie. Sie war ein dralles Mädchen. Rund an den richtigen Stellen. Ihr kastanienbraunes Haar fiel in üppigen Wellen bis über die Schultern. Frecher Blick. Eine kurze Weile diskutierte die Gruppe, doch letztlich wurde sie von der Kälte – hula hoop – zurück „Zum wilden Mann“, der nahen Kneipe, getrieben. Die Tür fiel krachend ins Schloss. Geschlossen. Stand auf dem Schild an der Tür. Die Krankenschwester war den Mädchen gefolgt, bestellte an der Bar eine Cola und ging Richtung Damentoilette. Den ledernen Griff der Tasche fest in der einen Hand, kontrollierte sie vor dem Spiegel den Sitz von Perücke und Mundschutz und betrat eine frei werdende Kabine. Verriegelte. Platzierte die Tasche auf dem Boden. Entleerte hörbar die Blase. Zupfte Strumpfhose und Kittel zurecht. Betätigte die Spülung. Entriegelte. Griff zur Tasche. Trat zum Waschbecken, die Tasche in der Hand, stellte diese auf die Ablage, wusch die Hände medizinisch gründlich, ergriff die Tasche und ging zurück in den Gastraum.

20:30 Uhr Friedrichstraße 48

Auf einer kleinen Bühne im hinteren Saal „Zum wilden Mann“, verbeugte sich eben eine als Putzfrau verkleidete Person. Erntete Applaus und Gekreische von den Zuschauerinnen. Die Frau am Keyboard spielte einen Tusch. Dann wurde ein Tanzmariechen angekündigt. Reichlich viel Lebendgewicht, eingenäht in eine Gardeuniform, kullerte auf die Bühne und gehörte in die Kategorie 40 plus. Pfiffe, Gegröle und Applaus für linkische Bewegungen und ein paar drollig Purzelbäume. Eine vollbusige Büttenrednerin unterhielt anschließend das Publikum mit derben Witzen. Und der Abend nahm mit viel Applaus und Konfettiregen seinen Lauf. Die Krankenschwester trank von ihrer Cola, indem sie den Trinkhalm immer wieder vorsichtig unter den Mundschutz schob.

Freitag, 0:45 Uhr Friedrichstraße 48

Das war die einzige Auffälligkeit, gab Mia zu Protokoll. „Ich hätte es ja gar nicht bemerkt. Wissen Sie, die Ingrid war so komisch in ihrem Mariechen-Kostüm.“ Der Beamte schlussfolgerte, dass Ingrid das Tanzmariechen war, das alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. „Aber Sophie …“ Die Zeugin brach in Tränen aus. Der Beamte reichte ein Taschentuch und wartete bis sich die junge Frau wieder gefasst hatte. „Die Sophie hatte mich angestupst. Sie wolle nur mal an die frische Luft. Und da hatte ich mich ganz kurz umgedreht und ihr zugenickt. Und da habe ich gesehen wie die Krankenschwester so umständlich den Strohhalm unter den Mundschutz schob. Komisch habe ich gedacht. Aber dann lachten alle um mich herum und ich sah wieder zur Bühne.“ „Und dann haben Sie bemerkt, dass die Krankenschwester ihrer Freundin gefolgt ist?“, wollte der Beamte wissen. „Nein, also nicht wirklich. Die Krankenschwester hatte die ganze Zeit mit ihrer Cola in einer Ecke gestanden. Nur war sie dann irgendwann verschwunden. Also nach Ingrids Auftritt. Und einmal dachte ich, sie hätte Sophie zugezwinkert. Also die Krankenschwester, aber das war schon vorher. Na ja. Sophie stand auf Jungs. Da hätte die lange zwinkern können.“ Mia gab sich empört. „Sophie hatte mir dann zugeraunt, dass die Krankenschwester vielleicht ein Kerl ist und …“ Wieder Schluchzen „… fand das auch noch aufregend!“ Der Beamte fragte mit unbeteiligter Mine. „Und Sie? Hielten Sie die Krankenschwester auch für einen Mann?“ „Da noch nicht. Ich dachte die Sophie spinnt sich was zusammen.“ „Können Sie die Krankenschwester beschreiben?“, wollte der Beamte wissen. Die Zeugin zögerte. „Sie hatte ja ständig diesen Mundschutz getragen und eine Brille. Die war schon auffallend, die Brille. Ein feuerwehrrotes Gestell aber die Gläser waren leicht getönt. Man konnte also die Augen nicht richtig sehen. Vielleicht grau. Also ganz dunkelbraun oder schwarz waren sie nicht – glaube ich.“, fügte Jule hinzu, die bisher immer nur nickend daneben gesessen hatte. Der Beamte überflog seine Notizen. „ … mittelgroß, durchschnittliche Figur, lange Beine, rotbraune Haare.“ – „Perücke?“, fragte er. Keine der Freundinnen wollte sich festlegen. „Vielleicht?“ Mia wrang erneut schluchzend das tränennasse Taschentuch. Bedauerte „Die arme Sophie!“ Weitere Befragungen brachten keine neuen Erkenntnisse. Der Beamte notierte die Adressen und Handynummern von Mia Meyer und Jule Bauer. Dann bat er eine anwesende Beamtin die jungen Frauen nach Hause zu bringen.

0:45 Uhr Kirchgasse 14, 2. Stock

Durch das gebrochene Glas des kleinen Badezimmerfensters konnte man wieder nur undeutlich die Silhouette einer erwachsenen Person erkennen. In diesem Bad … stand ER unter der Dusche. Das Gesicht dem Duschstrahl entgegen haltend. Wimperntusche, Lidschatten und Makeup verliefen über seine Wangen, sammelten sich zu einem schwarzen Rinnsal und verloren sich wieder. ER kostete die Erinnerung noch einmal aus. Wie sie bereitwillig auf eine Zigarette mit in den Hinterhof kam. Bereitwillig – wie ein dummes kleines Kaninchen. ER sei doch ein Kerl, hatte sie gefragt. Fand es cool, dass ER, ein Kerl, sich in den Weiberfasching geschlichen hätte. Ein Lachen, ein befreiendes entrang sich seiner Kehle. ER fuhr sich mit allen Fingern durch die kurzen lockig schwarzen Haare. Seufzte zufrieden. Sah noch einmal das Entsetzen in ihren Augen – als sie begriff. Spürte noch einmal ihre Angst. Ein freudiger Schauer durchlief seinen Körper. ER hatte sie genossen, ihre Angst. Genoss sie noch immer. War noch immer berauscht. ER hörte noch einmal das gurgelnde Geräusch aus ihrer Kehle. Sah das Blut, das warm und rot aus ihr pulsierte und wie mit dem Blut das Leben aus ihr wich.

Noch auf dem Nachbargrundstück des „Wilden Mannes“ hatte er Hose und Pullover aus der Tasche gegen den Kittel ausgetauscht. Hatte alle Verkleidung zu einem Bündel verschnürt und in eine zur Abholung am Straßenrand stehende Mülltonne geworfen.

15 Uhr Gendarmenweg 110

Der Beamte überflog noch einmal seine Aufzeichnungen:
In der Gaststätte Zum wilden Mann in Altberg veranstaltete, trotz der herrschenden Coronabestimmungen, am 11.2.2021 die örtliche Frauengruppe einen Weiberfasching. Am Ende der Veranstaltung, gegen 24 Uhr entdeckte Georg Sauer, der Besitzer des Wirtshauses im Hinterhof seines Anwesens die Leiche von Sophie Greve, 18 Jahre. Das Opfer lag mit durchschnittener Kehle neben den Müllcontainern. Der oder die Täter: unbekannt. Obduktionsbericht folgt.
Anmerkung: Gegen den Wirt des Gasthauses „Zum wilden Mann“ ergeht Anzeige wegen Verstoß gegen die Corona-Vorschriften. Die Personalien aller Anwesenden, bis auf die einer als Krankenschwester kostümierten Person, wurden festgestellt und auch sie müssen mit einer Geldstrafe rechnen.

Montag, 17:30 Uhr Kirchgasse 14, 2. Stock

Durch das gebrochene Glas des kleinen Badezimmerfensters kann man undeutlich die Silhouette einer erwachsenen Person erkenne. In diesem Bad … steht ER vor dem Spiegel. Eine kleine Notiz steckt an selbigem. Treffen zum Rosenmontag im Bootsclub. ER trägt sorgfältig weiße Theaterschminke auf sein Gesicht auf. Ummalt seine Lippen rot und die Augen schwarz.

Hinter ihm an der Tür, das Clown-Kostüm …

© Cornelia Stößel 2021 / Februar

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