Tee mit viel Zucker

4. Teil

In einem seltsam entrückten Zustand und leicht zitternd, ob freudig, lasse ich jetzt mal dahingestellt, ging ich in die Küche. Mein Zittern ließ nur langsam nach. War wohl eher eine Lockerung, raus aus der angstvollen Verspannung angesichts der Bedrohung durch meinen Schwager. Erst jetzt begriff ich erschaudernd, was mir geblüht hätte, hätte Ewald vom Ableben seines Bruders erfahren. Ich wäre dem Widerling ausgeliefert gewesen. Ich hielt die Blechdose mit den Rohypnoltabletten in der Hand. Dankte im Stillen meiner Schwiegermutter selig, dass sie Wodka den Schlaftabletten vorgezogen hatte und fragte mich, ob sie etwas geahnt hatte, als sie mir diese Sammlung vermachte? Ob sie gewusst hatte wozu ich sie einmal brauchen würde? „Tante Elsa …“ Ich fuhr vor Schreck zusammen und ließ die Dose auf die Anrichte fallen. Die Tabletten kullerten munter davon. Genossen die plötzlich erlangte Freiheit. Ich griff hektisch nach den kullernden Pillen und versuchte möglichst viele gleichzeitig einzufangen. „Bertram, du hast mich erschreckt!“, rügte ich meinen Neffen. Vorsichtig. Denn Bertram war ein sensibles Kind von höchstens 8 Jahren im Körper eines erwachsenen Mannes von 23 Jahren, der wie ein Schwergewichtathlet aussah. Durchaus attraktiv, aber eben das Gemüt. Na ja. Das war wohl Ewalds Erziehungsmaßnahmen zu verdanken.

„Tut mir leid, Tante.“, kam Bertrams klägliche Antwort. „Ist schon gut.“ Ich schob die Blechdose mit hoffentlich allen Pillen in die hinterste Ecke des Küchenschranks und nahm mir vor ein anderes Versteck dafür zu suchen. Dann wandte ich mich meinem Neffen zu. „Was gibt es denn?“, fragte ich ihn möglichst harmlos. „Du“, das „U“ reichlich dehnend, begann mein Neffe, „Wo ist denn der Ewald?“ Ewald hatte seinem Sohn eingebläut, anders kann man es nicht sagen, ihn nur mit dem Vornamen anzusprechen. „Stell dir vor, so ein Depp ruft dich Papa! Da bist du ja blamiert.“ Das waren Ewalds Worte. Gott hab ihn selig, dachte ich. Wobei selig? Für den ist sicher eine andere Instanz zuständig, überlegte ich weiter und spürte wie sich wieder ein Lächeln in meinem Gesicht ausbreitete. Ein entspanntes, ein erleichtertes Lächeln.

„Dein Vater?“, tat ich harmlos und hoffte auf eine göttliche Eingebung. „Was willst du denn von ihm?“ „Ach, eigentlich nichts. Wollte nur wissen wo er ist.“ „Magst du eine Limonade?“ Bertram strahlte über mein Angebot. „Hast du Waldmeister?“, fragte er hoffnungsvoll. So hoffnungsvoll wie nur ein Kind fragen kann. „Habe ich!“ Die Limonade aus der angrenzenden Speisekammer holend, fühlte ich mich plötzlich unsicher. Die Freude, die Befreiung, die ich angesichts des Ablebens meines Mannes und meines Schwagers gespürt hatte, war verflogen. Ich öffnete die Flasche. Ein Bügelverschluss. Der Metallbügel nahm plötzlich meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Er erinnerte mich an Handschellen. An Kerker. Ich schauderte. „Reiß dich zusammen!“, mahnte ich mich selbst. Erst jetzt bemerkte ich, dass Bertram munter vor sich hingeplappert hatte. „Thaifrauen sind willig!“, schnappte ich auf. Ich drehte mich um. Meine Empörung aus jeder Pore ausdünstend, nehme ich an, denn Bertram verschlug es umgehend die Sprache. Schuldbewusst blickte er mich an. „Hier!“, ich reichte ihm die grüne Limonade und sofort war aller Kummer wieder aus Bertrams Gesicht gewichen. „Oh, danke Tante, du bist die Beste.“ Bertram nahm einen kräftigen Schluck und noch einen und stellte das leere Glas mit der einen Hand auf den Küchentisch sich gleichzeitig mit der anderen über den Mund wischend. „Das war gut.“ „Magst du noch eine Limonade?“, fragte ich und merkte die Arglist, die in meinen Worten mitschwang. Als Bertram freudig das zweite Glas Limonade entgegennahm, setzte ich mich zu ihm. „Bertie, ich hatte dir eben nicht richtig zugehört. Was hast du mir von, hm …“ zögerte ich „Frauen! Erzählt?“ „Ach, Ewald will sich eine der Thaifrauen holen. Die seien …“ „Holen?“, unterbrach ich meinen Neffen. „Ja, rein in den Flieger. Drüben aussteigen, sich eine aussuchen und mitnehmen. Den Katalogen traut er nicht.“ „Den Katalogen?“, echote ich reichlich dümmlich. „Ja Tante, in den Katalogen, da setzen die irgendwelche Bilder rein, sagt Ewald und dann kriegst du in Wirklichkeit so einen hässlichen Vogel.“ „Sagt Ewald!“, ergänzte ich. Bertram nickte. Eine Idee noch undeutlich bemächtigte sich meines Denkens. Ich stand auf und holte noch eine Limonade. Bertram zappelte regelrecht angesichts meiner ungewohnten Freigiebigkeit, was die Waldmeisterlimonade anging. Normalerweise vertrat ich die Ansicht: Wasser für den Durst und alles andere ist Genuss. Aber heute war ein besonderer Tag. Nachdem ich das vierte Glas von dem klebrig grünen Getränk spendiert hatte, wusste ich, dass Ewald wohl auch in der Kneipe damit geprahlt hatte, sich eine Frau zu holen, eine willig und, dass „der verblödete Bengel“, sein Sohn Bertram, in ein Heim kommt. „Es sei denn, die Elsa“, also ich, „will ihn haben.“ Ich legte meinem Neffen die Hand auf die seine. „Du bleibst auf jeden Fall bei mir!“, versprach ich dem Jungen. Der warmherzige, dankbar strahlende Blick, den er mir schenkte, sagte mir, dass ich richtig entschieden hatte.

„Ich hol meine Sachen!“, sprang Bertram auf. Und ehe ich etwas dagegen sagen konnte, war Bertram aus dem Haus und ich saß da mit zwei Leichen im Keller. Na ja, eigentlich nur einer.

Die andere schwamm in der Regentonne. Was ich jetzt brauchte, war eine Tasse Tee mit viel Zucker. Ich musste nachdenken.

© Cornelia Stößel 2020

Die Fortsetzung folgt am nächsten Freitag im FreitagsText