Donbas

Markus Behmer

Till Mayer erzählt: Von der Teenagerin Olesia, die im Schützengraben starb. Vom 41-jährigen Sergiy, der zu kämpfen, immer weiter zu kämpfen, als seine Pflicht sieht. Von der Rentnerin Valentina, in deren Gemüsebeet nachts Granaten einschlagen. Von Kahlrasierten, die Wasserkanister stemmen, um ihre Muskelberge aufzupumpen. Von der einsamen Nahorna Natalja Wadymiwna, die im westukrainischen Lwiw das Grab ihres Sohnes besucht. Hunderte Kilometer weiter östlich ist er gestorben, an der Front, wo sein Vater, ihr Mann – verzweifelt über den Tod des einzigen Kindes – heute kämpft.

Und Till Mayer zeigt sie, die Kameraden an der Front, die in d er Kampfpause in sich versunken Zigarette rauchen, die den Torso einer Schau fensterpuppe im Arm halten; als Schussfang hatte sie gerade noch gedient. Männer, die ihre Waffe präsentieren – stolz oder entschlossen, desillusioniert oder deprimiert? Er liefert uns Fotos vom alltäglichen Irrsinn in den Schützengräben und vom allfälligen Überleben dahinter, in der Etappe, in den Städten des Donbas.

Aus Awdijiwka, aus Shyrokyne kommen seine Bilder und Berichte. Nie gehörte Ortsnamen am Ende einer Welt, die längst nicht mehr unsere ist und aus einer Zeit, die nicht unsere sein sollte. Frontstädte, fern der friedlichen Koexistenz, des zivilen Miteinanders. Und doch leben dort Menschen wie wir mit Zielen und Sehnsüchten. Es sind Orte, in denen Kinder aufwachsen und Greise von besseren Zeiten träumen, die sie kaum je erlebt haben, kaum mehr erleben werden.

Es ist eine karge Welt, eine kahle, eine kalte Welt, die uns in den Schwarz-Weiß-Aufnahmen begegnet. Schwarz sind die Waffen, die Ruinen, grau sind die Gesichter, weiß ist allenfalls der frisch gefallene Schnee, in dem die apokalyptische Schützengrabenwelt im Winter versinkt, wo im Frühjahr und Herbst nur Matsch ist.

Die Absurdität wird in den Begriffen deutlich. Disco nennen es die Kämpfer, wenn mal wieder Dauerbeschuss herrscht, als Aquarium bezeichnen sie ihren Wellblechunterstand. Absurd wirkt es auch, wenn ein Soldat in den Überresten eines Klassenzimmers ein Schulbuch hochhält, wenn ein anderer sich auf einem Sofa inmitten einer trümmerübersäten Straße zwischen Mauerresten in Positur setzt. Wo sind die Kinder geblieben, die einst hier lernten, wo die Menschen, die dort flanierten? Und surreal erscheint es, wenn kurz hinter der Kampflinie Fußball gespielt wird oder ein alter Mann Tauben züchtet. Klar: Katzenfotos gehen immer; bei Mayer illustrieren sie aber keine „heile Welt“, sondern auch einen Versuch, der Rattenplage Herr zu werden.

Diese Erzählungen, diese Bilder ermöglichen uns, mindestens exemplarische Einblicke zu bekommen in den Aberwitz dieses weithin verdrängten, jeden falls aus den täglichen Nachrichten verschwundenen Konflikts im Osten Europas zwischen gerade noch „Brüdervölkern“, zwischen Nachbarn und vormaligen Freunden.

Till Mayer nennt auch die Zahl der Toten, Verletzten und Vertriebenen, nennt Verantwortliche. Eindeutig macht er klar, dass Grenzüberschreitungen – seien sie politisch, gar militärisch oder humanitär – nicht toleriert werden dürfen. Es sind aber keine politischen Analysen, die er bietet, keine Kriegsnachrichten, keine Frontreportagen – sondern eben Impressionen, die zu Dokumenten der Zeit werden.

Objektiv können sie nicht sein. Er hat „nur“ die eine Seite der Front bereisen können, war nicht auf der Seite der pro-russischen Milizen, hat nicht mit Menschen auf der anderen Seite der Kampflinie sprechen können. Till Mayer ist parteiisch – aber nicht im Sinne einer der Kriegsparteien, sondern im Sinne einer tiefen Humanität. Seine Bilder sind so auch Mahnbilder für die Mitmenschlichkeit und Menetekel gegen die Entmenschlichung.

„Gräben, die durch Herzen gehen“, überschreibt er eines seiner Kapitel, „Auf der Suche nach dem ‚Land des Glücks‘“ ein anderes. Seine Eindrücke und Bilder gehen zu Herzen und berühren den Verstand. Sie zeigen uns die menschliche Dimension dieses „vergessenen Krieges“. Glück ist hier fern. Die Aufgabe aber, dass es glücken kann, den Konflikt wenigstens zu entschärfen, ist gegenwärtig. Hier wird sie uns eindringlich zum Bewusstsein gebracht.


Donbas
von Till Mayer

136 S., 114 Abb., 21 x 26 cm, geb.,
ISBN: 978-3-940821-70-6, Erich Weiß Verlag
Das Buch ist im Buchhandel zum Preis von 18 Euro erhältlich.