Monika Beer
Im Januar 1880 hören die Wagners bei ihrem Italienaufenthalt entzückt einem neapolitanischen Volkssänger zu. „R. bewundert u.a.“, schreibt Cosima in ihr Tagebuch, „wie er mit dem Atem umzugehen weiß, auch die Sachen, die er singt, sind in ihrer wild zärtlichen, heiter einschmeichelnden, verführerisch sinnlichen Art einzig. Aber wie wird mir, wie der Sänger das Thema der Rheintöchter (er hat den Ring gehört) sich zu erinnern sucht! R. spielt es, und die ganze Schönheit der Natur ersteht vor uns, das begehrliche Tier hatten wir vor uns, nun den unschuldigen Menschen!“
Im Februar 2018 setzt die Regisseurin Verena Stoiber mit ihrer Ausstatterin Sophia Schneider in Chemnitz ziemlich genau das in Szene: Vorne links an der Rampe sitzen auf Klappsesseln zwei Zu-spät-Gekommene, ein heutiges Ehepaar, das sich bald als Wotan und Fricka entpuppen wird. Die Mini-Sitzgruppe rechts ist belegt von einem unscheinbar gekleideten Mann, der nicht nur so mitspielen wird, wie es Wagner für den Halbgott Loge, den alerten Handlanger Wotans, vorgesehen hat. Was folgt, ist eine erste „Rheingold“-Szene, die vermutlich – bis auf ein nicht unerhebliches Detail – auch den Wagners gefallen hätte, weil sie trotz der gegebenen Brechung mythischen Charakter hat.
An Algen-Lianen schwingen anmutig drei in Nacktkostüme gehüllte Rheintöchter durch die Wogen-Lüfte und singen betörend schön (Guibee Yang, Sylvia Rena Ziegler, Sophia Maeno), während Alberich (Jukka Rasilainen) genau der haarige, höckrige Geck ist, wie er im Libretto steht – und mit seinem Gemächt unübersehbar zeigt, dass viel Testosteron mit im Spiel ist. Es ist eine dennoch unschuldige, auf den ersten Blick konventionell wirkende, fast kitschig anmutende heile Welt, die jäh zerbricht, wenn Loge (Benjamin Bruns) dem Schwarzalben sein Messer reicht. Der Raub des Goldes ist ein erster Gewaltakt: Alberich schneidet den Rheintöchtern die golddurchwirkte Haarpracht ab. Fortan geht es stets um Macht und Ohnmacht, Machtmissbrauch und Machtvakuum – und das alles, weil fast alle Männer und einige Frauen im Stück nichts wissen wollen von „Weibes Wonne und Wert“.
Diese Sentenz aus Loges Rundreise durch alle Winkel der Welt ist vielschichtig und wird von der ersten der vier Chemnitzer Ring-Regisseurinnen erhellend durchdekliniert. Schon zu Beginn der zweiten Szene, während Fricka (Monika Bohinec) die Lieb- und Treulosigkeit ihres Göttergatten beklagt, steigt der relativ junge und virile Wotan (Kristián Cser) einer Putzfrau nach, die die blutigen Reste von Alberichs Ring-Raub beseitigt. Das hohe Paar ähnelt dem aktuellen französischen Präsidentenpaar. Sie sind sich zwar nicht immer grün, mögen sich aber durchaus noch. Und wenn endlich die Betonmauer sichtbar wird, hinter der sich wohl Walhall verbirgt, denkt man unwillkürlich an Erich und Margot Honecker – ja sogar, weil es hier an Assoziationen weiß Gott nicht mangelt, an Donald Trumps geplante Mexiko-Mauer. Beide sind überzeichnet: Wotan raucht viel und ist plakativ selfie-süchtig, das Smartphone ist offenbar sein Speer; Fricka fegt Wotans Handy immerhin in den Putzeimer, trinkt Sekt aus der sie allzu kleinbürgerlich machenden Piccolo-Flasche, was sie leider auf die gleiche Stufe stellt wie die braven Riesen Fafner (James Moellenhoff) und Fasolt (Magnus Piontek), die in Anzug und Krawatte und mit einem Schubkarren voller Vertragsordner zur Bauabrechnung kommen.
Freia (Maraike Schröter) ist nicht die lieblich-leichte Göttin: eher noch ein Kind, fast schon ein Trampel, in dem man, der vermeintlichen Freiheit wegen, schon Siegfried erahnen mag, ein ziemlicher Trampel, eine verwöhnte Göre, für die außer Shopping nur der von Loge verachtete Froh wichtig ist – und ihr hellblauer Spielzeugaffe, dessen markanter Schwanz einem zu denken aufgibt. Die spielerischen Neben-Götter Donner (Matthias Winter) und Froh (Petter Wulfsberg Moen) – ersterer ein Alt-Achtundsechziger in Lederjacke und Jeans, letzterer ein blutjunger Schnösel – kommen vom Golfplatz, schlüpfen beide gern in die von Freia mitgebrachten Roben samt Perücken und treiben damit die Frauenquote ungewohnt hoch. „Die Götter tanzen Cancan“ heißt ein älteres Wagner-Buch, das in dieser Inszenierung plötzlich aufscheint, auch wenn einfach nur getanzt wird, was auch ohne das Beine-hoch-Werfen ein tolles Bild ist. Die wichtigere Abhandlung für hoffentlich nicht nur Verena Stoibers Konzept dürfte „Weibes Wonne und Wert“ von Jochen Hörisch aus dem Wagnerjahr 2013 sein. Spannend, unterhaltsam, politisch unterfüttert und verstörend zeigt die Regisseurin, dass und wie die Geschlechterrollen im „Ring“ abendfüllende Themen sind.
Spätestens in Nibelheim kapiert jeder, wie sehr Weibeswonne und -wert unter die turbokapitalistischen Räder gekommen sind: In der unteren Etage werden in Kinderarbeit modische Sneakers hergestellt, oben ist ein Bordell mit auffallend lustlos agierenden Statistinnen. Kein Wunder: Zuhälter Alberich quält nicht nur seinen Bruder Mime (Edward Randall), sondern lässt gern mal ein Mädel über die Klinge springen. Seine Verwandlungen mit einem Spiegel als Tarnhelm sind ein probates Theatermittel, Loge und Wotan übertölpeln ihn spielerisch. Noch vor Alberichs Fluch haben Erda (Bernadett Fodor) und ein alter Mann mit Gehstock die linken Logenplätze eingenommen – und bald wird man erleben, wie virtuos sich im „Ring“ die Zeiten mischen: In der Gegenwart trifft der hier noch zweiäugige Wotan dank der seherischen Urmutter aus der Vergangenheit auf sein zukünftiges Alter Ego als einäugiger Wanderer.
Nachdem Fafner seinen Bruder Fasolt mit einem Goldschläger ermordet hat, rafft er nichts von der als Nibelungenschatz aufgetürmten heutigen Warenwelt, sondern schleppt die Zwangsprostituierten und die Kinder ab. Wenn sich zuletzt die verstörten Rheintöchter in diese Ausnutz-, Profit- und Wegwerfszenerie verirren, ist eigentlich schon „Götterdämmerung“, und zwar so sehr, dass man weinen könnte. Also ein „Rheingold“-Schluss, wie er im Buche steht: Am 12. Februar 1883 spielt Wagner nachts das Klage-Thema der Rheintöchter, nennt sie Undinen-Wesen, die sich nach einer Seele sehnen, fügt Loges „Falsch und feig ist, was oben sich freut“ hinzu und sagt: „Daß ich das damals so bestimmt gewußt habe!“ Cosima schreibt: „Wie er im Bette liegt, sagt er noch: ‚Ich bin ihnen gut, diesen untergeordneten Wesen der Tiefe, diesen sehnsüchtigen.‘“ Am nächsten Tag wird er sterben.
Die sehr lebendige Wagner-Nachwelt hat mit dem ersten Teil des „weiblichen ‚Rings‘“ in Chemnitz einen attraktiven neuen Anlaufpunkt – mit großartigen Solisten, von denen mich vor allem das Rollendebüt von Benjamin Bruns als Loge begeistert hat. Man könnte eine Aufführung nur damit verbringen, zu beobachten, was warum dieser Loge tut. Eine Überraschung ist auch der Wotan von Kristián Cser, der regielich ein Bruder Leichtfuß, aber stimmlich eindeutig eine Autorität und der erste Mann am Platz ist. Darstellerisch couragiert auch der Alberich von Jukka Rasilainen, wenngleich sein Bass-Bariton für meinen Geschmack etwas zu grob bleibt.
Die Oper Chemnitz bietet insgesamt ausgezeichnete Sänger, und mit der 99 Mitglieder starken Robert-Schumann-Philharmonie ein Orchester, dem man die vorherige Wagnerpflege anhört, auch und gerade unter dem neuen Chef Guillermo García Calvo, der sich mit seinem 1. Kapellmeister Felix Bender die vier Ring-Werke teilt, die das Haus als Saisonhighlight innerhalb von nur zehn Monaten am 1. Dezember komplett herausgebracht haben wird. Chapeau! Wenn der „Ring“ in dieser Qualität weitergeht, muss sich Festspielleiterin Katharina Wagner warm anziehen, die angeblich 2020 in Bayreuth ebenfalls einen „Ring“ mit vier Regisseurinnen, darunter sie selbst, herausbringen will.
Besuchte Generalprobe am 1. Februar, weitere Vorstellungen am 22. 2., 3. und 31.3., 15. und 28.4.2018. Infos und Fotos auf der Website des Theaters Chemnit:
https://www.theater-chemnitz.de/spielplan/repertoire/infos/das-rheingold/
Der Richard-Wagner-Verband Bamberg bietet Busfahrten zu allen vier „Ring“-Teilen in Chemnitz an. Infos für die Fahrt zum „Rheingold“ am 31. März auf der Homepage des Vereins: www.rwv-bamberg.de/