BIG DATY IS WASTING YOU

Manfred Spitzer: Cyberkrank! – Wie das digitalisierte Leben unsere Gesundheit ruiniert

Werner Schwarzanger
Abbildung aus dem besprochenen Buch

Abbildung aus dem besprochenen Buch

Silvester: morgens, mittags, nachmittags, abends: ballerballer am laufenden Band. Um 24 Uhr ballerts ein bisschen mehr. So stiehlt das Unvermögen zu warten dem Feuerwerk zur Jahreswende die Show. Was macht uns derart platt, dass uns selbst ein so bescheidener Gipfel wie das in aller Stille zu erwartende Silvesterfeuerwerk schon unerreichbar wird?

Konzerne spinnen um uns das größte Netz aller Zeiten und machen absurd zu viel Geld damit. Was aber macht dieses „Internet“ mit uns? Wenn Menschen allerorts so gebannt auf Ihr Smartphone starren, dass ihnen die Umwelt zum Schemen verschwimmt, stimmt etwas fundamental nicht mehr mit uns. Die schweigende Mehrheit spürt das wohl. Doch wie Fische im Netz fühlt man diesem omnipräsenten Zug sich ausgeliefert und zappelt nur noch ergeben mit. Wie sich dieses digitalisierte Leben im Netz seelisch und körperlich auf uns auswirkt, dies wissenschaftlich aufzuklären ist das zentrale Anliegen von Professor Manfred Spitzer, dem Hirnforscher und Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm, der dafür schon manchen Shitstorm über sich ergehen lassen musste. Zeigt er doch fundiert, wie das Internet uns in den Suchtsog einer präzedenzlosen Dehumanisation hineinsaugt, die sich auf den Knackpunkt der sogenannten technologischen Singularität hin rasend um die Erde verbreitet. Für die paranoid zynischen Überwachungsweltmeister der NSA sind die Käufer von Big Brother Jobs iPhone nur noch „Zombies“, die sich gerne diesem aufs hinterhältigste gesteuerten Sog überlassen. Tabulos veröffentlicht „post privacy“ zu leben finden immer mehr besonders geil. Dass alle ihre digitalen Spuren von den Verwertern der in Datenzentren vollautomatisch analysierten Big Data verkauft, sie mithin selber zur Ware werden, stört sie dabei nicht im mindesten. Würde der Führer von Facebook, der sich die gesamte Menschheit auf sein Forum herunterladen will, seine Milliarden Fans nett lächelnd fragen: Wollt ihr das totale Netz? –, was erwiderten die ihm da wohl unisono total begeistert? Wozu sich privatsphärisch noch abschotten, wenn im Netz doch Hunderte von „Freunden“ winken? Seitdem die Ausspionierten dafür, dass sie Ihre Daten liefern dürfen, ihre Privatsphäre gerne preisgeben, ist der Schutz der Privatsphäre ebenfalls zur Ware verkommen, die sich nur noch die Reichsten leisten können, allen voran die smarten Bosse im Silicon Valley. Einige von ihnen geben ihre Kinder sogar in eine Waldorfschule daselbst – nicht weil sie Anthroposophen wären, sondern weil nur dort in den Klassenzimmern keine Computer stehn …

Nach der Digitalen Agenda der gegenwärtigen Bundesregierung soll zwecks deutscher „Spitzenposition im Bereich des Höchstleistungsrechnens“, digitaler Innovation der Wirtschaft, effizienterem Marketing und mehr sozialer Kontrolle der Bürger die Macht von Big Data per Cloud-Computing voll ausgebaut werden. Und der derart entmündigte Bürger? Verkommt zusehends hyperkonnektiert „overloaded“ zum verdaddelten „Informations-Junkie“, so Spitzer, der den Bezug zum weilsamen Wesen der Zeit so weit verliert, dass ihm die Zeit immer zu langsam vergeht. Wozu auch langweilig erst noch groß in sich gehen und diese Veränderung in Frage stellen, wenn man sich mit ein paar Mausklicks oder Touchscreenwischern doch jede gewünschte Information sofort aus dem Netz schnappen kann?

Doch der durchdigitalisierte Alltag raubt uns nicht nur die Zeit, sondern stört und verflacht auch den Schlaf. Je mehr man sich die Zeit netzsurfend verwüstet, umso größer wird das chronische Schlafdefizit, das den Cyberstress, die wachsende Fremdbestimmung durch den medialen Overflow nicht im Griff haben und so nie mehr ganz bei sich selbst sein zu können, verstärkt. So dreht sich die Frustrationsspirale der Angst, etwas im Netz zu verpassen – Spitze bezeichnet diese neue Krankheit als FoMO: Fear of Missing Out – umso schneller, je mehr Zeit man dem Internet opfert.

Wenn Milliarden Menschen sowie nichts los ist Ihr Smartphone zücken, das sie scheinbar „mit der ganzen Welt“ verbindet, tatsächlich aber lediglich in den algorithmisch weltersetzenden Cyberspace verstrickt, dann zeugt diese „Smartphone-Toxizität“, so Spitzer, von einem menschheitsbrunnenvergiftenden Shitstorm ohnegleichen. Telefonieren, E-Mails, SMS etc. senden und empfangen, facebooken, twittern, shoppen, killerspielen: mit all diesen Ablenkungen von den wirklichen Menschen und Dingen unterminiert die Smartphonitis nicht nur Bildung und Gesundheit einer ganzen Generation, sie trainiert durch das ihr zwangsläufig entsprechende Multitasking nicht nur eine chronische Dekonzentration an: sie destruiert, indem sie alles Benehmen zusehends robotisch verpromptet, zutiefst auch den besinnlich fragenden Weltverhalt. Dieser kybernetische Abbau eines Grundzugs des Menschseins wird von gekauften „Experten“ und Medienpädagogen als „Revolution im Klassenzimmer“ gefeiert. Denn: „Digital macht schlau!“ Und: „Spiele machen klug!“ Mit derlei verlogenen Slogans sorgt die Cyberlobby dafür, dass wir die flächendeckende Vermüllung der Gehirne der nächsten Generation in Kauf nehmen.

„Spiele machen klug“: Sie steigern, so versichert man uns, „Aufmerksamkeit, Koordination, Reaktionsschnelligkeit“ – und Lernkapazität! Sie steigern, versichert Manfred Spitzer dagegen, die hyperimpulsive Selbstüberrumpelung und vermindern das besonnene freie Entscheidenkönnen. Wie im Spiel ballert man auch im Alltag zusehends disharmonischer nur noch drauflos. Kein Wunder also, wenn, wie eine schwedische Studie mit 7757 Jugendlichen, die mehr als 5 Stunden täglich mit Computerspielen verbrachten, zeigt, Depressionen ebenso zunehmen wie Empathie schwindet. Der Schwund der Empathie zeigt sich etwa in dem neuen Freizeitspaß „Happy Slapping“, der seit einigen Jahren um sich greift, wie letztens erneut in Bamberg: Eine Gruppe Jugendlicher schlägt einen anderen zusammen – und Einer von ihnen filmt den Spaß mit dem Smartphone. Passanten und Jogger laufen teilnahmslos daran vorbei. Nach Polizeiberichten mehren sich Unfälle, wo Autofahrer filmend daran vorbeifahren – anstatt zu helfen …

Damit die digitalen Zeitfresser- und Brandbeschleuniger-Konzerne schon die Kinder in die Sucht holen können, würde „unsere gegenwärtige Regierung“, so Spitzer, „am liebsten jedem 15-Jährigen ein mobiles digitales Endgerät … spendieren“. Eine Enquete-Kommission des Bundestags fordert darüberhinaus die Vernetzung bereits der Kindergärten. Für Manfred Spitzer läuft dies auf ein Anfixen von Kleinkindern in einem zur kritischen Distanzierung noch unfähigen Alter hinaus. Auf diesem Gipfel politisch-pädagogischer Verantwortungslosigkeit ist der Wille, nicht nur Schulbuch und Schulheft durch iPad zu ersetzen, sondern – wie in Finnland – die Handschrift überhaupt abzuschaffen, dann nur noch konsequent. Ehe sie laufen und sprechen können – und ohne je mit der Hand schreiben zu lernen – soll das größte Netz aller Zeiten sie schon bannen. Ein in seiner Ausbildung verhindertes Gehirn aber bleibt irreparabel verkümmert.

Wenn Mark Zuckerbergs Vision, dass Alle sein „Facebook“ „immer seltener verlassen, egal, was man im Netz vorhat“ – wo sonst? – Realität geworden ist, dann hat die analoge Menschwerdung keine Chance mehr. Sowie die Kurzweil-Singularität explodiert, implodiert die Menschheit. Dann wird’s auf Erden gespenstisch.

Das Rad der Zeit aus diesem Megadesaster einer präzedenzlosen Dehumanisation herausdrehen kann niemand mehr. Keine Macht der Welt kann diese Lawine noch stoppen. So bleibt uns mit Manfred Spitzer nur noch auf Menschen zu hoffen, die ihre Privatsphäre und freie Selbstbestimmung und damit das erschütterte Fundament der Demokratie um keinen Preis aufzugeben bereit sind. Ihnen empfiehlt er, sich dem Stress der 24/7-Erreichbarkeit immer wieder zu entziehen. Doch: „Dies ist viel einfacher gesagt als getan“, denn Alleinsein mit nichts als den eigenen Gedanken wird inzwischen von den meisten als so unangenehm erlebt, dass man die flüchtigste Ablenkung dieser Langeweile vorzieht. Dabei ist, wie Spitzer weiß, „Langeweile in Wahrheit ein äußerst kreativer Zustand!“ Nur aus der lange gehegten Weile kann sich Großes heilsam ereignen. Rilke nennt dies die „leise innerste Arbeit“, durch die allein ein Mensch sich in Besitz nehmen kann. Dies vor allem also müsste der junge Mensch lernen, um sich selbst nicht im „Facebook“ hunderter Scheinfreundschaften verlorenzugehen.

CyberkrankManfred Spitzer:
Cyberkrank!
Wie das digitalisierte Leben unsere Gesundheit ruiniert
432 S., 21,5 x 14 cm, geb.
Droemer Verlag
ISBN: 978-3-426-27608-2
Preis: 22,99 €

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