Eine neue Ethik angesichts autonom werdender Roboter?

Andreas Reuß

Ein geistig herausforderndes Zusammentreffen von Kommentaren gab es in der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung am 10. / 11.1.2015: Kurt Kister schrieb in seinem Leitartikel auf der Seite vier über den Terror in Paris und die vom Islam geprägten Staaten Türkei und Saudi-Arabien: „Viele dieser unterschiedlichen, sehr traditionellen Gesellschaften sind binnen kurzer Zeit nahezu vom Mittelalter in die Moderne gestürzt.“ Und: „Nirgendwo bröckeln die Identitäten so gefährlich wie in der Krisenregion vom Maghreb bis zum Hindukusch. Der IS, al-Qaida oder BokoHaram sind die Symptome dieses Zerfalls.“

Auf der folgenden Seite schrieb Michael Decker, Leiter des Instituts für Technikfolgeabschätzung und Systemanalyse in Karlsruhe, darüber, dass die im Moment entstehenden Roboter immer perfekter und autonomer würden. Allerdings könnten sie den Menschen die Wertedebatte nicht abnehmen: „Es geht hier um nichts weniger als eine Verständigung darüber, wie wir Menschen miteinander leben wollen.“

Letzteres erscheint fast schon lustig in seiner Ignoranz. In der westlichen Gesellschaft führen wir schon seit Jahrhunderten eine Wertedebatte und „verständigen“ uns spätestens seit Lessing oder Kant immer neu darüber, wie wir miteinander leben wollen. Inzwischen wollen wir aber gar keine so eindeutigen Werte und Normen mehr haben, dass man einen Roboter danach programmieren könnte; denn das führte vielleicht wieder zu den von Kister so genannten Staatsideologien, die seit 1989 – bei uns zumindest – hoffentlich abgedankt haben.

Wir in der westlichen Gesellschaft, wo die Roboter schwerpunktmäßig entwickelt werden, sind eben nicht von einer „sehr traditionellen Gesellschaft … binnen kurzer Zeit nahezu vom Mittelalter in die Moderne gestürzt“. Wir haben zwar das mittelalterlich-kirchliche ethische System aufgegeben, aber grundlegende Güter und Werte wie Leben, Menschlichkeit, Frieden und Freiheit sind als kulturelles Erbe geblieben.

Heute ist als ethisches System noch am meisten eine Diskursethik à la Habermas anerkannt. Und als höchste Instanz gilt das Gewissen, das im alltäglichen Leben Identität geben und einen Ausgleich finden muss zwischen den Formen der radikalen Situationsethik bzw. „autonomen Moral“ einerseits und einer allgemein verbindlichen Wertethik andererseits. Eine religiöse Letztbegründung gehört freilich nicht mehr für alle zum identitätsstiftenden, tragenden Gedankengebäude unseres Gemeinwesens, das es in dieser geschlossenen Form überhaupt nicht mehr gibt. Kister zitiert mit Recht Poppers Wort von der „offenen Gesellschaft“, die seit einigen Jahrzehnten mit dieser Tatsache zu leben gelernt hat und die weder sich selbst noch ihre Roboter mit vereinfachten Ja / Nein – Befehlen dirigieren will.