Postmodernes Pathos, Spiel und Ironie. Die Gedichte Dirk von Petersdorffs. Nebst einigen Bemerkungen zur Lyrik und Lyrikkritik.

Zurück im Job

Dazu Johanna zügig abgestillt,
Reflex: ist immer etwas zu „beweisen“,
nur wenn, im leeren Raum, wo gar nichts gilt? –
vergiss auch nicht das Gleiten früher Reisen,
als ihr Gedanken, die auf Decken lagen,
im Park, so losgebunden durch den Sekt,
so kritzelt Pollock ein Geflecht aus Tagen,
vom Sommerschauer lustvoll aufgeschreckt.
Die Folien prüfen, halbe Stunde Frist –
ob du dein Kind auch stark genug vermisst?

Dirk von Petersdorff

Von Chrysostomos

Der Stellenwert von Lyrik nicht in der schönen alten Welt von gestern, sondern im Hier und Jetzt und Heute ist, glaubt man den Feuilletons (denn dort kommt sie kaum noch vor), nicht allzu hoch mehr, ungeachtet zumeist recht gut besuchter Lesungen und solcher populären Veranstaltungen wie Poetry-Slams, trotz zahlreicher Poetik-Professuren, einiger weniger Lyrikzeitschriften und -verlagshäuser, ungeheuer vieler –preise und -stipendien, sollte er es denn überhaupt je – vielleicht in der alten schönen Welt von gestern – gewesen sein. „Die Lyriker sind Randständige“, schreibt einer, der es wissen muß, Harald Hartung, in einem Essay, der zu finden ist in der von Erwin Krottenthaler gemeinsam mit José F.A. Oliver herausgegebenen, in Dresden und Leipzig 2013 bei Voland & Quist (einem Hause also, das sich für Gedichte stark macht) erschienenen Essaysammlung Literatur – machen. Literatur und ihre Vermittler.

Diese Randständigen, konstatiert Hartung, „dürfen sich freuen, wenn 500 Bände verkauft werden. Ihr Ruhm ist Insider-Ruhm.“ Und gleich eingangs seines Essays, ursprünglich vorgetragen innerhalb einer Gesprächsreihe des Literaturhauses Stuttgart, kommt Hartung auf den Punkt: „Der Stand der Literaturkritik ist grundschlecht.“ Es fragt sich, fragt sich Hartung, ein großer Lyriker, ein sehr großer Lyrikkritiker (in der, wo eigentlich sonst, FAZ), „ob die großen Zeitungen noch den Anspruch erheben können, die deutsche und internationale Literatur repräsentativ zu würdigen“. Die mittleren Blätter, beispielsweise die Frankfurter Rundschau, die einmal eine beachtliche Rolle in der literarischen Welt spielten, hätten, so Hartung, ihre Literaturkritik praktisch eingestellt. Und: „Lokale Blätter bieten Buchtipps, die sich von Waschzetteln kaum unterscheiden.“ Auch was den Rundfunk angeht, sieht Hartung schwarz, mit Blick auf das TV tiefschwarz: „Vom Fernsehen möchte man schweigen.“

Die Honorare der Kritiker stagnierten seit Jahren oder gingen sogar zurück: „Wer früher für mehrere Rundfunkanstalten schrieb und die Rezension noch an eine Zeitung verkaufte, konnte bescheiden davon leben. Heute gibt es den freien Kritiker als Figur kaum noch. Vor allem schreiben die Redakteure. Einst war es ihr Stolz, prominente Autoren und Kritiker für ihr Blatt zu gewinnen. Heute werden sie von den Chefs angehalten, selber zu schreiben – um Geld zu sparen: lumpige zwei- oder dreihundert Euro. So schlecht geht es den Zeitungen. Es ist klar, was das für die Kritik bedeutet: Sie wird fad und stromlinienförmig.“ (Das alles, fast alles, bestätigt die Lektüre etwa des Fränkischen Tages. Dessen Feuilletonchef immerhin ist eine löbliche Ausnahme: er vermag zu schreiben, schreibt aber so gut wie nie über Lyrik. Und wenigstens einen prominenten Autoren läßt Rudolf Görtler immer wieder zu Wort kommen: Ulrich Holbein, der freilich nie über Lyrik sich äußert, ja Gedichte, von ganz wenigen abgesehen, überhaupt nicht zur Kenntnis nimmt. Statt „lumpigen zwei- oder dreihundert Euro“ zahlte das Blatt vor einigen Jahren für eine Rezension siebzig Euro; inzwischen mit Glück gerade mal noch die Hälfte.)

Es war T. S. Eliot, der, einmal nach dem Besonderen der Lyrik befragt, geantwortet hat: „Nimmt am wenigsten Platz weg.“ Und so gibt es dann doch ein, zwei deutschsprachige Blätter, die nicht nur der Lyrikkritik sondern der Lyrik selbst immer wieder Platz einräumen: die Neue Zürcher Zeitung zum einen, die Frankfurter Allgemeine zum anderen. Auf dem Titelblatt des Feuilletons vom vergangenen Freitag, dem 22. November also, konnte man das oben angeführte Gedicht von Dirk von Petersdorff lesen. Und als sehr schöne Ergänzung hierzu fand sich auf Seite 36 ein Beitrag von Niklas Bender, „Austausch im Zeichen des Esprits“, über die Tübinger Doppel-Poetik-Dozentur. An der Eberhard-Karls-Universität stellten sich in diesem November, unterstützt von der mäzenatischen Firma Würth aus Schwäbisch Hall, Hans Magnus Enzensberger und eben Dirk von Petersdorff vor. Enzensberger, soeben vierundachtzig geworden, trug unter anderem seine Variationen über Brechts „Der Radwechsel“ vor, Petersdorff, Jahrgang 1966 und aus Kiel gebürtig, hatte den Benn-Vers „Ich bin nichts Offizielles, / ich bin ein kleines Helles“ zu einem begeistert aufgenommenen, saukomischen „Bierlied mit Benn“ ausgebaut.

Niemand anderes als Harald Hartung schrieb in keinem anderen Blatt als der FAZ: „Dirk von Petersdorff versucht nämlich etwas sehr Bemerkenswertes: ein postmodernes Pathos, ja einen lyrischen Existentialismus. Freilich auf eine Weise, die Spiel und Ironie nicht außer Kraft setzen.“ Und Hartungs Dichterkollege Heinrich Detering sieht den Lyriker, Literaturwissenschaftler (er lehrte an der Universität des Saarlandes, jetzt ist er Professor in Jena) und Essayisten Petersdorff als „Fortsetzer einer Ironie, die sich über Gernhardt und Enzensberger zurückverfolgen lässt bis zu den Antipoden Heine und Brentano“, während ihn der schwedische Lyriker Lars Gustafsson aus Anlaß der Verleihung des Kleist-Preises 1998 einen poetischen „Nomaden“ nannte.

Selten verzichtet Dirk von Petersdorff auf den Reim, selten auf die Form, selten auf die Tradition, ja, er schreibt sogar – und häufig dazu – Sonette. Beispielsweise dieses:

Wintertrost

Die Zeit, in der die Krähen heiser werden,
ab Mittag wird es enger für das Licht,
da liegt die alte Decke mit den Pferden,
denn deine Fenster waren niemals dicht.
Du wühlst in deiner Dokumentenmappe,
„Gott hat uns nicht den Geist der Furcht gegeben“,
dein Taufspruch, du befühlst die weiche Pappe
und hast nur dieses einzig schmale Leben.
Jetzt steht der Himmel einen Lichtspalt offen,
das Graue löst sich auf, es muss so sein,
und immer wieder schneidet auch ein Hoffen
in dein Gewebe leicht und tief sich ein.
_           Ich weiß, am Winteranfang ziehn die Wunden,
_           so heftig bist du mit der Welt verbunden.

NB: „Wintertrost“ ist entnommen dem von Heinrich Detering ausgewählten und herausgegebenen Großen Buch der deutschen Gedichte (bei Reclam erschienen, soeben in der dritten, durchgesehenen und um Nora Gomringer sowie wenige andere erweiterten Ausgabe), das man nur empfehlen kann. Etwas Vergleichbares findet sich hierzulande derzeit nicht.

NBB: Die Stuttgarter Veranstaltungsreihe über „Literatur und ihre Vermittler“ kam zustande in Kooperation mit der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Ulf Abraham und Ina Brendel-Perpina vom Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur sorgten dafür, daß sich die „renommiertesten Wissenschaftler“ daran beteiligten.