Peter von Liebenau
Dort geht ein Schriftsteller durch die Stadt. Er ist berühmt. Jedenfalls hält er sich dafür. Klar, eine urbane Stadt verfügt über einige Berühmtheiten, Prominente. Und jetzt sage man nicht, das sei nur Lokalprominenz!
Schon die Art, wie der Schriftsteller geht, ist doch ganz anders als diejenige des normalen Volkes. Der normale Bürger hetzt durch die Straßen, er geht in die Stadt, weil er mal in die Stadt „muss“, nicht weil er einfach nur Lust dazu hat oder von seiner hohen Warte – der Prominente lebt in Bamberg oft ein wenig höher – herabsteigt, um für einige Momente seiner kostbaren Zeit nachzuschauen, was die normalen Menschen da unten so treiben. Zur Ablenkung. Bestenfalls zur Inspiration. Zur inneren Freude vielleicht.
Verzeihung, das sind natürlich alles Vorurteile, und die sind wenig urban.
Trotzdem: Der prominente Künstler, Schriftsteller oder Politiker hetzt nicht, er geht ganz langsam; oder wie soll man das ausdrücken? Er schlendert. Er flaniert. Er versucht die Dinge um sich herum wahrzunehmen, weil er ja eigentlich an etwas anderes denkt, das Ganz Andere schlechthin – wie könnte er sonst auf seine Ideen kommen, sich mit seinen Inhalten auseinandersetzen, die ihn umtreiben?
Thomas Bernhard schrieb über die Burgschauspieler, sie könnten weder gehen noch stehen und schon gar nicht im Gehen sprechen.
Ehrfürchtig schauen wir normale Bürger dem Prominenten zu, ohne ihn anzusprechen. Wir beschäftigen uns ja vornehmlich mit Äußerlichkeiten. Gerade wir Jugendliche. Für unsere Generation, die keine Zeit hat, gibt es ja noch gar keine Bezeichnung, man kann überhaupt nicht sagen, welche Epoche wir eigentlich vertreten. Das war schon nach dem letzten Krieg schwer, geistesgeschichtlich relevante Epochenbezeichnungen zu finden. Man sagte einfach: Die Fünfzigerjahre. Oder die Adenauer-Ära oder Adenauer-Restauration. Die Zeit danach waren die 68er – ja, und dann? Bereits danach wird es schwierig.
Und wir, die jetzige Generation, wir haben überhaupt noch keinen Namen. Weder Namen noch Zeit noch Inhalte. Wir sind ja noch jung – und wollen es bleiben! Obwohl die Babys der Gegenwart doch schon ins Geburtenregister der Geistesgeschichte eingetragen gehörten. Mit einem Namen und einem Geburtsdatum.
Obwohl – das Geburtsjahr steht ja fest: 1989. Deshalb hat uns jetzt das internationale Londoner Kunst- und Ideenfestival Serpentine Marathon kurzerhand den Namen 89plus gegeben. Das hat irgendwas mit dem Mauerfall zu tun, glaube ich, oder?
Nicht unbedingt, hieß es dort. Es war auch das Internet, das sich seither über unsere Gesellschaft warf. Und so mancher wurde eingefangen. Kennzeichen unserer Generation ist nun, dass wir unsere Privatsphäre verloren haben. Wie steht es dann mit der Demokratie? Sie setzt doch so etwas wie Meinungsbildung voraus, auch die der Privatmeinung. Gibt’s das noch? Meinungen, die den Staat, ja Institutionen allgemein prägten – beides weg, sagten sie in London. Umgekehrt sei es jetzt: Institutionen sind nicht mehr von gewachsenen Meinungen geprägt, von Leuten, die sich mit Inhalten auseinandergesetzt haben, sondern vom Netz, dem sich die Institutionen anzupassen hätten. Von Info-Häppchen im Netz, freilich mit Kommentarfunktion. Von Stimmungen also.
Nur ja nicht zu lange irgendwas lesen; denn wir sind – laut Serpentine Marathon – eine Gesellschaft von Überfliegern, die möglichst schnell über Texte wegkommen wollen. Dafür haben wir sogar ein App, nämlich das App Summly, Wert: 30 Millionen Dollar. Dieses komprimiere zu lange Online-Texte in einfach verdauliche Häppchen, wie es die SZ neulich so schön formulierte.
Also, machen wir hier jetzt langsam Schluss mit der heutigen Ausgabe der urbanen Londoner und Münchner Plaudereien, sonst werden wir noch per App zusammengequetscht und alle fliegen drüber weg. Und das wollt Ihr doch nicht, oder?
Wir tun es lieber wie der Prominente: Wir schlendern – oder wandeln – heute mal durch Bamberg. Lassen uns Zeit und kaufen uns einmal keinen Bamberg-Kurzführer oder eine Philosophie-Einführung, sondern die unkomprimierte Ausgabe des neu erschienenen Bestsellers „Die Schlafwandler“ von Christopher Clark. 895 Seiten, geschrieben von einem 1960 Geborenen. In einem Fernseh-Interview verglich Clark die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg sehr deutlich mit der heutigen globalen Situation. Er sagt unter anderem, dass man damals in Europa fest davon überzeugt gewesen sei, dass die Krise kommen müsse. Nun, dann kam sie ja auch. Neben vielen Krisen gab es vor Kriegsausbruch übrigens auch eine Krise der Männlichkeit. – Und trotz allem versanken die Geheimdienste in einer merkwürdigen Untätigkeit. Wenigstens kann man dieses nicht mit der Gegenwart vergleichen. Sollten wir nicht froh sein über diesen kleinen Unterschied?
Christopher Clark liefert keine komprimierten Wissens-Häppchen, sondern weitgreifende Zusammenhänge, basierend auf enormer Bildung. Eine echte Berühmtheit. Würde er auffallen, wenn er durch Bamberg wandelte? Sein Werk geht jedenfalls auch in unseren Buchhandlungen gut weg. Wir sind eben doch urban, wenigsten a wengerla.