müde bin ich
vorm schlafen sprach ich leise mit
dem haarteil meiner mutter ich
kann mich nicht erinnern wie
es sang von seinem bleichen
kopf aus styropor so leise
lieder loreleyn es sang
man müsste noch mal
zwanzig seyn & sagte dass
ich schlafen soll
Lutz Seiler
Von Chrysostomos
Sechs Jahre hat das bei Reclam herausgekommene, palindromische 1001 Seiten starke Große Buch der deutschen Gedichte inzwischen auf dem Buckel. In seiner soeben erschienenen dritten Auflage, für deren Auswahl und Herausgabe wiederum der Göttinger Germanist, Lyriker und Bob-Dylan-Fan Heinrich Detering verantwortlich zeichnet, ist es um drei Dutzend Seiten angewachsen, bringt sechzehn neue Namen, die passionierten Lyriklesern allesamt so neu nicht sind, und erweitert in einigen wenigen Fällen (Kaschnitz etwa, Aichinger, Enzensberger, Harald Hartung, Jan Wagner) das bislang Gebotene um weitere Exempel derer poetischen Kunst.
Das Vorwort wurde, was schade ist, unverändert übernommen. Geblieben ist das arg nützliche Verzeichnis mythologischer Namen und Begriffe, geblieben sind, unmittelbar im Anschluß an das jeweilige Gedicht, die knappen Erläuterungen von (oft Bibel-)Zitaten und Allusionen, von veralteten Wörtern oder solchen, die einen Bedeutungswandel durchgemacht haben. Geblieben sind schließlich die Kurzbiographien im Anhang, in welchen sich Detering als begnadeter Stilist erweist.
Nun ist dort auch Hölderlin zu finden, dessen Vita, anders als sein Schaffen, in der Erstauflage unterschlagen worden war. Sarah Kirschs Tod ist bereits vermerkt, Walter Helmut Fritz und Peter Rühmkorf hingegen weilen noch unter den Lebenden, glaubt man Detering. Rühmkorf gesteht er dieses Fortleben womöglich zu, weil der Hamburger Heine-Liebhaber die sonst recht streng chronologisch geordnete Sammlung mit einer Parodie auf die Merseburger Zaubersprüche, mit denen sie anhebt, beschließen darf („Auf einen alten Klang“).
Man spürt, daß der Herausgeber auch Theologie und Skandinavistik studiert hat. Luther taucht immer wieder auf, der zweisprachige Däne Jens Baggesen ist mit einer einzeiligen „Caspariade“ vertreten („Selbst im Gähnen der Frommen ist unverkennbar die Andacht.“), der Schwede Gustav Fröding mit einem seiner deutschen Verse. Nachdichtungen werden berücksichtigt, Erich Fried – Dylan Thomas, Bachmann – Ungaretti, dreimal (Dorothea Tieck, George, Karl Kraus) Shakespeares „Shall I compare thee to a summer’s day“.
Neu hinzugekommen sind, es war allerhöchste Zeit, Helga M. Novak, Ulf Stolterfoth, Lutz Seiler. Und von den Jungen Steffen Popp, Ann Cotten, Nora Bossong, Nora Gomringer („Haushaltsjahr“). Die Künstlerhausdirektorin folgt subito auf die derzeitige Concordia-Stipendiatin Silke Scheuermann, die schon 2007 dabei war. Weder Gomringer noch Scheuermann werden die „Letzte einer Art“ sein, die Scheuermann bedichtet. Lyrik lebt. Und es sind (auch) so vorbildliche Anthologien wie die Deterings, die sie am Leben halten. Nun lesen Sie wohl!
NB: Heinrich Detering (Hrsg.), Reclams großes Buch der deutschen Gedichte. Vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert. Stuttgart: Reclam, 2013.
NBB: Lutz Seiler, vor einem halben Jahrhundert geboren, ist im Thüringischen aufgewachsen. Während seiner Zeit bei der Nationalen Volksarmee begann er, Prosa und Gedichte zu schreiben. Sein Suhrkamp-Band pech & blende von 2000, aus dem „müde bin ich“ stammt, machte ihn bekannt. Die „lieder“ der „loreleyn“ sind eines der vielen Leitmotive, die sich durch Deterings Sammlung ziehen. Man vergleiche und lese hierzu Brentanos „Zu Bacharach am Rheine“, Heines „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“, und Kästners „Der Handstand auf der Loreley“.