Vom März bis zum Oktober, von November bis April. Von Blumen, von Gärten, von einem Gedicht. Nebst einem Hinweis auf Brecht, auf Nora Gomringer und auf den vorbarocken Theobald Hock.

einer herbstzeitlosen
(mithin – für b.h.)

nie hast du,
sagst du, sagst du
im off, im pianissimo,
nie hast du, sagst du,
im pianissimo, im off,
und wiederholst dich dabei,
zeitlose, du, zeit, im
herbst nicht, nicht
winters, noch wenn
die tulpen (blühen), die herbst-
zeitlose, wenn die wachtel (schlägt),
in april showers, – the cruellest month –
und jetzt schon gleich, sagst du, gar
nicht, sagst du, und kommst so, so
zwischen urknall und traumverlangen,
zwischen chaostheorie, kürbissuppe
und wärmetod, auf den g-punkt, du sagst, daß,
sagst, zeitlose, du (und dabei wiederholst du
dich), immerhin im
herbst jetzt, du (also doch!)
mich (irgendwie), zeitlos
sogar, irgendwie, sagst du,
liebst, irgendwie, sogar
zeitlos.

25/10/13
Jürgen Gräßer

Von Chrysostomos

Daß sie vom März bis zum Oktober blühen: so weise angelegt, mit monatlichen Blumen, hat der Augsburger Bertold Brecht, oder jedenfalls dessen lyrisches Ich, seinen „Blumengarten“. Ob darin auch Herbstzeitlosen zu finden sind? Wer weiß; wir wissen es nicht. Rosen („Die späten rosen welkten noch nicht ganz“, heißt es bei George; „Rose, oh reiner Widerspruch, Lust / Niemandes Schlaf zu sein unter soviel / Lidern“ lautet die von Rilke für seinen eigenen Grabstein verfaßte Inschrift), eine kleine Rose, hat Brecht an anderer Stelle bedichtet:

Ach, wie sollen wir die kleine Rose buchen?

Ach, wie sollen wir die kleine Rose buchen?
Plötzlich dunkelrot und jung und nah?
Ach, wir kamen nicht, sie zu besuchen
Aber als wir kamen, war sie da.

Eh sie da war, ward sie nicht erwartet.
Als sie da war, ward sie kaum geglaubt.
Ach, zum Ziele kam, was nie gestartet.
Aber war es so nicht überhaupt?

Im lyrischen Vergleich mit der Rose, in ihrer poetischen Potenz, aber vielleicht nur da, zieht die Herbzeitlose, die der Volksmund auch Herbstrose nennt, unzweideutig den Kürzeren. Nur warum sollte nicht einmal auch ihr, der Herbstzeitlosen, ein Gedicht gelten, geschrieben womöglich, so hat es jedenfalls den Anschein, irgendwo und irgendwann zwischen „traumverlangen“ und – es ist ja Herbst – „kürbissuppe“? Die Botaniker rufen sie im übrigen Colchicum autumnale, die Herbstzeitlose. In seiner siebten Auflage von 1999 schreibt Meyers großes Taschenlexikon über die Pflanze: „giftiges Liliengewächs des europ. Graslandes; entwickelt aus einer zwiebelähnl. Knolle im Herbst nur die sehr lang röhrige [sic!; der unseligen Rechtschreibereform sei es gedankt; es mag ja ein Hirsch sehr lang röhrig sein, wenn er bei Stimme ist, aber …], krokusähnl., lilafarbene Blüte und im nächsten Frühjahr das Kraut mit der blasigen, zuletzt braunen Fruchtkapsel. Bes. die Samen enthalten das Alkaloid Colchicin.“

In der sechsten Auflage von Meyers Großem Konversations-Lexikon, einem Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens, herausgekommen 1908 in Leipzig und Wien, kann man im vierten Band auf Seite 217f. unter „Colchicum“ lesen: „Etwa 30 Arten, meist im Orient und in den Mittelmeerländern. C. autumnale L. (Herbstzeitlose, Wiesensafran, wilder Safran, Herbstrose,
nackte Jungfer, Hahnenklötenwurzel, s. Tafel „Giftpflanzen I“, Fig. 5), in Deutschland, Mittel-, West- und Südeuropa, auch in Algerien auf feuchten Wiesen.“ Die frische Knolle, „im Spätsommer gesammelt“, rieche „widrig rettichartig, schmeckt süßlich, dann scharf bitter und kratzend, nach dem Trocknen nur noch bitter“. Die Herbstzeitlose sei schon „den Alten“ bekannt gewesen, und wurde „auch Ephemeron genannt, weil man glaubte, daß derjenige, der eine Zwiebel esse, an demselben Tage sterben müsse.“

Der Samen und „daraus bereitete Präparate (Tinktur, Wein) werden gegen Gicht, Rheumatismus, Wassersucht“ angewendet. Doch Vorsicht: „Große Dosen wirken, wie auch die Wurzeln und Blüten, stark giftig. Die Vergiftungserscheinungen bestehen in Kopfschmerz, Erbrechen, brennendem Durst, starken Darmentleerungen, Schwäche, Schwindel, Zuckungen oder Krämpfen, Tod meist am zweiten Tage.“ Gerade für Bamberger noch interessant: „Bisweilen soll man Colchicumsamen betrügerisch als Hopfensurrogat in der Bierbrauerei angewendet haben (vgl. Dragendorff, Herbstzeitlose im Bier, Frankf. 1877).“

Der Autor der „herbstzeitlosen“ ist Mitte Februar 1963, im kältesten Nachkriegswinter, im saarländischen Neunkirchen (ganz wie Nora Gomringer, die Bamberger Lyrikerin und Künstlerhausdirektorin) geboren und in Limbach bei Homburg aufgewachsen. (Aus Limbach stammt der vorbarocke Lyriker Theobald Hock, dessen bekenntnishaft moralisierenden Gedichte mit roher Metrik, wenig geschmeidiger, volkstümlicher Sprache und reicher Verwendung sprichwörtlicher Redensarten gesammelt sind im Schönen Blumenfeldt von 1601; Hock war, im Bemühen um eine Reform der deutschen Dichtung, ein Vorläufer von Weckherlin und Opitz. Gerhard Tänzer, auch er Saarländer, hat in Anlehnung an das Blumenfeldt unter diesem Titel bei S. Fischer eine erotische Versschule veröffentlicht.) In Saarbrücken, in Urbana-Champaign (University of Illinois), in Freiburg hat Gräßer Anglistik und Amerikanistik – die Anspielung auf T. S. Eliots The Waste Land in der „herbstzeitlosen“ ist nicht zu übersehen – Germanistik, Musikwissenschaft und Posaune studiert.

Vor allem aber, sagt man, habe Gräßer das Leben studiert, bisweilen auch palindromisch („Nebel“). Das erinnert an einen Satz aus dem schönen London-Oxford-Paris-in-den-Sechzigern-Kinofilm „An Education“ nach einem Drehbuch von Nick Hornby: „I attended what they call the University of Life, and I’m afraid I didn’t get a very good degree there.“ Tatsächlich hat Gräßer länger auch in London gelebt (im East End) und gearbeitet (in Putney), lange Zeit und immer einmal wieder auch in Blythburgh/Suffolk, wo er den Lyriker und Übersetzer Michael Hamburger kennenlernte, in dessen Cottage er, begleitet von Hamburgers Frau (nun Witwe) am Flügel, der Dichterin Anne Beresford, die Cellosonaten von Benedetto Marcello auf der Posaune blies. Nach Stationen in Portugal (in einem Dorf bei Seia in der Sierra da Estrela), Österreich (bei Linz) und in Usingen/Taunus, wo er, erst spät, zum journalistischen Scheiben fand (bei der Frankfurter Rundschau), soll es ihn ins Fränkische verschlagen haben.

Veröffentlich hat er wenig, immerhin aber zu Charles Tomlinson (in Harenbergs Lexikon der Weltliteratur, 1989), zu Michael Hamburger (1987, in der Freiburger Zeitschrift Prufrock; darin auch eine Auswahl seiner, Gräßers, englischsprachigen Gedichte) und, immer wieder und nach wie vor, zu Gustav Mahler (beispielsweise in den Nachrichten zur Mahler-Forschung, Wien). Für Uwe Kleindienst, ehemals Solotrompeter der Bayerischen Staatsoper, hat er eine Trompetenschule ins Englische übersetzt, für dessen früheren Posaunenkollegen Andrea Conti eine Posaunenschule ins Deutsche, und für die Edition Isele in Eggingen hat er Gedichte und Kurzgeschichten aus dem amerikanischen Englisch ins Deutsche übertragen. Ein Briefroman – Blätter zur Unvernunft – ist (bislang) Fragment geblieben.

In jüngeren Jahren war Gräßer ein durchaus talentierter Lang-, Marathon- und Ultramarathonläufer, eine Leidenschaft, die er sich mit dem jüngst verstorbenen Rolf Haufs und Günter Herburger teilte. Mittlerweile verfolgt er, der seinen Fernseher bereits vor Dekaden abgeschafft hat, die großen Läufe nur noch vor der Glotzkiste, sofern er gerade eine Freundin hat, die eine solche besitzt. Vom Sofa aus schaut er sehr gern auch Snooker, ein Sport, der es ihm seit seinem ersten Englandaufenthalt in den Midlands in den späten Siebzigern angetan hat. Auf die Frage, wie er einmal sterben wolle, soll Gräßer, schon in seiner Zeit in den Bergen Portugals, geantwortet haben: „Bei Geistesgegenwart. Mit einem sehr reifen queijo da Serra im Mund, einem guten vinho tinto auf den Lippen, und mit dear an meiner Seite.“

NB: Eine Neuausgabe von Theobald Hocks Schönem Blumenfeldt ist vor wenigen Jahren im Saarbrücker Conte-Verlag erschienen.

NBB: Ohne die Zeit mit B. wäre dieser Essay, den zu schreiben mir eine nicht geringe Freude war, keinesfalls zu Papier gebracht worden. Darum sei er ihr, die mir unter anderem vor Augen führte, wie schön es ist (jedenfalls: sein kann), in einer Großfamilie zu leben, dediziert. Der Hinweis auf Brecht oben auch deshalb, weil sich B. mit ihm den Geburtstag, mit mir das Geburtsjahr teilt. Um abraço! Brown was – and still is – the colour of my true love’s hair.