Zufallsfund an einem späten Mittwoch im Juni, kurz nach halb sechs. Zu den Gedichten Ernst Günther Bleischs.

Sarabande

Tänzelt Tanja durch das Gras
haust im Garten Oliver –
neigen sich nieder
im Gras
zu Gloxinien –
Juli weht waldein
Juliblaue Bienenzeit –
hinschmilzt
zögernd
Einsamkeit –
das Duftdunkel
teilt
ein Pfauenschrei –
rot auf rot
der Klatschmohn schweigt

Ernst Günther Bleisch

Von Chrysostomos

Serendipity zählt, wenn man der Umfrage eines britischen Übersetzungsbüros (und Wikipedia) Glauben schenken darf, zu einem der zehn am schwierigsten zu übersetzenden Wörter des Englischen. Und das, obgleich die Vokabel in zahlreiche Sprachen übernommen worden ist. Die Finnen beispielsweise sagen serendipiteettii dazu, serendipità die Italiener, einer Madrilenin würde das Wort serendipia über die schönen Lippen kommen, während ein Berliner Soziologe schlicht von Serendipität redete.

Gemeint ist damit ein Zufallsfund, eine angenehme Überraschung, eine unerwartete Entdeckung. In die englische Sprache eingeführt hat das Wort Horace Walpole, der 1764 mit The Castle of Otranto die Gattung des Schauerromans begründete. Den Neologismus formte er in Anlehnung an das persische Märchen Die drei Prinzen von Serendip, die zahlreiche zufällige Entdeckungen machen. Serendip wiederum ist eine alte arabische Bezeichnung für Ceylon, heute Sri Lanka geheißen.

Einen solchen Zufallsfund jedenfalls machte ich heute am späten Nachmittag, als ich – eigentlich auf der Suche nach einem ganz anderen Gedicht von Ernst Günther Bleisch, einem, das dem Oboisten Heinz Holliger gewidmet ist und so schlicht wie treffend „In b“ heißt – via serendipity statt auf Seite 120 sieben Seiten weiter landete, bei der „Sarabande“. Und da wir ja bald Juli haben, dachte sich Chrysostomos: Yes, this is it. Ein schöner Einstieg, um diese Reihe von Kommentaren, welche Gedichten gelten, wieder aufleben zu lassen nach einer etwas längeren, keineswegs freiwilligen Pause.

Ernst Günther Bleisch, der vor einem Jahrzehnt in München verstarb, ist Jahrgang 1914 und stammt aus Breslau. Der gelernte Buchhändler wirkte von 1945 an als Journalist, Rundfunkautor (beim BR) und freier Schriftsteller – mit dem Schwerpunkt auf Lyrik – in der bayerischen Kapitale. Er war Träger unter anderem des Schwabinger Literaturpreises und des Eichendorff-Preises. Und er war, wie mir scheint, Musiker, zumindest Musikliebhaber. „Abend in A“ handelt von Chopins A-Dur-Polonaise und verwendet bis auf drei, vier Ausnahmen ausschließlich ein Vokabular, das mit dem Buchstaben A beginnt, ein anderes heißt „Oboenspieler“, es gibt den (Carl) „Orffgarten“, eine „Combo“ spielt auf, sicher nicht an einem „Morgen in Moll“, in „Heiligenzeit“ werden „Tuben / vielleicht auch Terzinen“ gehört, und „Waldläufer“, in welchem jeder den „Kontrapunkt“ vom Blatt singt, endet so: „von Rachmaninoff / ist / der letzte Satz“.

Der „Abschied in fis“ sei genauso wenig vergessen wie die „Nebeltrompete“, die „Fuge“, die „Fermate“ Das „Nachtstück“ hat seinen Platz und beginnt tatsächlich mit einem „Vorspiel“, die beiden Gedichte folgen unmittelbar aufeinander. Dann sind da noch „Altstimme“ und „Abgesang“. Daß Bleisch auch „Fränkisch-schlesische Miniaturen“ geschrieben hat, über Max Dauthendey (Würzburg also), sehe ich erst jetzt. Serendipity?

Die „Sarabande“ kommt, wie sich das gehört, im Tanzschritt daher, und es ist Tanja, die da tänzelt, und sich dadurch, nebenbei, alliteriert, wie so vieles andere in dem Gedicht auch. Vielleicht hat sie was mit Oliver, der hinten im Garten haust, jedenfalls schmilzt die Einsamkeit, wenn auch zögernd, dahin. Bleisch bedient sich seltener Komposita („Juliblau“ etwa, „Duftdunkel“), setzt auf Gloxinien – in Brasilien vorkommende Kräuter, die der Gattung Sinningia angehören und deren glockenförmige Blüten das Auge erfreuen – und setzt auf Gras (das man von hinten auch als „Sarg“ deuten kann, so wie aus „rot“ „Tor“ wird), Bienen summen, ein Pfau schreit, der Klatschmohn aber übt sich im Silencio. Und wir jetzt, im Juni, auch.

*

Jetzt im Juni

Wer sieht noch,
daß die Nessel blüht
am Lattenzaun
mit grauem Gesicht,

wenn in Holler hell
die Wiese sinkt,
und die Arnika
schwenkt ihr Ampellicht –

es schleifen die Wälder
blau durch das Gras.
Das Goldne siedet
den Sommer gar.

NB: Die beiden Gedichte sind zu finden in dem nur antiquarisch noch zu entdeckenden (serendipity?) Band Ernst Günther Bleisch, Zeit ohne Uhr. Ausgewählte Gedichte 19521982. Wiesbaden: Limes, 1983.

NBB: Es sei gestattet, diesen Beitrag, auch wenn Chrysostomos schon bessere geschrieben hat, Tanja Stupar Trifunovic zuzueignen, einer wunderbaren Lyrikerin aus dem kroatischen Zadar, sowie Oliver Will, auch er, wie Tanja, ein Liebhaber der Musik, ein Mann der Kultur. Gute Freunde in dieser Zeit.