Andreas Reuss
Menschen, Bürger, wollen eine „lebendige“ Stadt. Mit diesem Ausdruck schaffen wir eine Personifikation, eigentlich eine Allegorie. In der Tat wird die Stadt, indem wir darin leben, eine Art lebendige Person, mit einem Körper und einem Gesicht. Das ist eine Projektion: Wir erheben uns selbst in unserer Personalität, unserer Menschlichkeit – was sollten wir sonst wählen? – zum Maßstab für die Stadt.
Wir sollten unsere Stadt Bamberg in der Tat nicht nach anderen Maßstäben ausrichten, die mit der Zeit entstanden sind, zum Beispiel nach dem Autoverkehr.
Menschlichkeit beinhaltet Rahmengebung für die elementaren Güter und Werte, allen voran eine sinnvolle Abwechslung zwischen Ruhe, Arbeit und Feier.
Nach Ortega y Gasset, dem spanischen Philosophen, spürt der Mensch das Vorhandensein des Gemeinwesens, des Staates, von Anfang an, sobald er auf die Welt kommt, so wie die Luft zum Atmen oder die Schwerkraft der Erde. Wenn er also schon so elementar vorhanden ist, darf der Staat auch nicht untätig sein. In der Gesetzgebung darf der Mensch die Dinge nicht treiben lassen, er muss Rahmenbedingungen setzen. Freilich soll sich der Staat bekanntlich auch nicht in alles einmischen. Menschliche Gesetzgebung heißt nach Ortega, dass sich das „Gewand“ des Gesetzes dem Körper des Menschen anpassen soll, eben einen Rahmen gibt, ohne ihn allzu sehr einzuengen.
Aber ein Rahmen muss gegeben werden. Fortwährende Zerstörungen, Beschädigungen von Sachen, Angriffe auf Menschen, sodass deren Blut an unseren Hauswänden klebt, unhygienische Absonderungen, dauerhaft maßlose Lärmausbreitung und körperliche Bedrohung müssen eingestellt werden. Wir können und müssen darüber nachdenken, wie hier der Rahmen gesetzt, wie das Gewand der Gesetze enger geschnürt werden kann.
Wenn der Gesetzgeber hier nicht eingreift, versäumt er seinen Dienst am Gemeinwesen und muss – im Extremfall – seine Aufgabe, obwohl er dazu berufen wurde, anderen überlassen.
Wir müssen uns darauf besinnen, was das Feiern in einer menschlichen Stadt bedeutet. Nach Odo Marquardt ist die Feier eine Art Enthebung vom Alltag. Die Feier entrückt eine bestimmte, eingegrenzte Zeit des Menschen über die Arbeitszeit. Sie kann nicht jeden Tag stattfinden. Sie muss mit einem gewissen Sinn angereichert sein, ihn zur Basis haben. Sebastian Haffner sah in Deutschland am Ende der 1920er Jahre – vor der Durchsetzung des NS-Regimes – das Problem, dass es einer oberen Schicht, und dort vor allem vielen jungen Menschen, einerseits sehr gut gegangen ist; sie waren wirtschaftlich gut gestellt und hatten viel freie Zeit. Andererseits wussten sie nicht richtig, wie sie damit umgehen sollten, wie sie es mit Feier und Alltag zu halten hätten. Noch heute gibt es bisweilen diese „Unfähigkeit zu feiern“.
Bamberg ist eine Stadt mit einer großen, ja großartigen Tradition des Feierns. 1020 ereignete sich in unserer Stadt das damals größte denkbare Fest der Welt: Kaiser und Papst, die „Säulen“ des Erdkreises, kamen hier zusammen, dazu noch Fürsten, Herzöge und Bischöfe aus vielen Ländern bzw. Teilen des Reichs.
Was bedeutet das für uns heute? Die Erinnerung an diese Feste ist in steinernen Zeugnissen, zum Beispiel Inschriften, noch vorhanden, außerdem lebt sie weiter in zahlreichen kirchlichen Festen und Feiern, die zum Vorbild profaner Feiern geworden sind. Das Wasserschloss Villa Concordia wurde gebaut als festlicher Palazzo im venezianischen Stil, in dem sich mustergültig feiern ließ – und wieder feiern lässt.
Bamberg ist nach wie vor eine kulturell recht reichhaltige Stadt. Eine Stadt für viel „höhere Zeit“. Es gibt relativ viele Kinos, Theater, Konzertsäle oder Galerien, man kann mit (nächtlichen) Zugfahrten Metropolen erreichen, in denen noch mehr Einrichtungen und Veranstaltungen besucht werden können.
Rahmensetzung für unser menschlich orientiertes, lebendiges Gemeinwesens hieße, die kulturellen und kreativen Veranstaltungen und Möglichkeiten des Feierns im Stadtbild, im „Gesicht“ der Stadt, noch mehr in den Vordergrund zu rücken, um die von Haffner angesprochene Inhaltsleere zurückzudrängen: Mehr Betonung der Kunst im öffentlichen Raum, mehr Hinweise auf Veranstaltungen statt Werbung auf den überall aufgestellten Dreiecksständern, Präsentation des einen oder anderen Gedichts auf Werbeflächen; Einzelhändler, die gern Veranstaltungsplakate präsentieren; Gaststätten, die das nächtliche Treiben mit einem „Kultur-Spot“ in ihren Räumen unterbrechen; Tanz-Performances im öffentlichen Personen-Nahverkehr, in Bussen, Zügen und auf Bahnsteigen, unter anderem am ZOB; Gemälde oder Literatur auf den beleuchteten Stadtplan-Ständern; eine Aktion „Kneipen beleben statt benebeln die Sinne“; Stille-Zonen breiten sich aus, in denen die Kultur der Bamberger Romantik gepflegt und kultiviert wird; Gesprächskultur statt überlauter Musik. Es gäbe noch viel mehr Möglichkeiten. Warum werden dazu noch keine Ideen gesammelt?
Traditionelle Feste können so gepflegt werden, dass die kulturellen Elemente die Oberhand gewinnen. Vereinen, Studenten, kulturell orientierten Gruppen und Initiativen kann Vorrang eingeräumt werden, wenn sie selbst ein Konzept bieten, das auch das Ruhebedürfnis der Menschen, der Bewohner, berücksichtigt. Bamberg kann Gesicht zeigen, für eine lebendige Stadt in dem Sinne, dass dem menschlichen Leben demonstrativ ein Rahmen gegeben wird: Flächen für große, laute Autos werden beschnitten, an vielen Stellen wachsen mehr Pflanzen und Bäume, Fußgänger und Radfahrer können sich freier und gefahrloser bewegen, Kneipen in der Altstadt werden dazu angehalten, die historischen Strukturen ihrer Gebäude nicht als lästige Vorgabe zu betrachten, sondern die Gäste dadurch zu inspirieren.
Es muss eine Stimmung aufkommen, dass die sinnvolle, anspruchsvolle Feier bevorzugt wird. In vielen Städten Mitteleuropas wird ebenfalls sehr laut gefeiert, in anderen wiederum haben sie ein poetisches Maß, die Gesichter der Menschen haben keinen aufgerissenen Mund, bereit für laute Schreiereien.
Alle Einrichtungen können mehr zusammenwirken. Die Gewerbetreibenden können einen Dialog beginnen mit allen Kultureinrichtungen, von der Kirche über die Universität bis zu den Vereinen.
Es muss darüber nachgedacht werden, wie Bamberg, das lebendige Gemeinwesen, aussieht, wie sich sein Gesicht zeigt oder zeigen soll, wo seine geistigen Wurzeln und geistigen Hintergründe liegen. Diese Wurzeln sind dann zu „kultivieren“, in die Gegenwart hinein zu verwandeln.
„Alles, was vom Gesicht beschreibbar und erzählbar ist“, schreibt Hans Belting in seinem neu erschienen Buch „Faces. Eine Geschichte des Gesichts“, „ist nur Spiegel für das, was nicht direkt da ist, sondern umstellt von Kulissen, in welche die Gesellschaft und Kulturen das Gesicht eingeschlossen haben.“
Wir müssen versuchen, hinter die Kulissen unseres Stadt-Gesichts zu schauen, um das Gesicht Bambergs vertieft zu erschließen. Schon dabei werden neue Maßstäbe deutlich, Veränderungen werden bewirkt. Die Menschen, die mitdenken, in den Dialog eintreten, das Gesicht enthüllen, bilden Maßstäbe, lassen die Person Stadt in neuer Weise lebendig werden.
Manche Kneipen werden nicht mehr nur Orte sein wollen, die mit Alkohol versorgen. Noch gibt es leider einige, die keinerlei Interesse am Dialog haben; die eine Kulisse sind, welche nicht auf geistige Hintergründe verweist, sondern eine Kulisse, die Lebendigkeit und Menschlichkeit stören soll.
Manche Gäste werden aber nicht mehr Beschmutzer von Häusern, Fassaden, „Kulissen“, sein wollen. Sie werden die Grundstücke anderer Menschen respektieren wollen. Das geschieht vielleicht auch dann, wenn weitere Bürgerhäuser im Weltkulturerbe eine sorgfältige Aufschrift bekommen, mit dem Hausnamen, mit Jahreszahlen und anderen Hinweisen. Dieses sollte noch mehr über die entsprechenden Abgaben oder Preisverleihungen gefördert werden.
Wir lieben Bamberg doch alle, heißt es in so manchen Reden. Wenn wir einen Menschen lieben, betrachten wir ihn weniger pragmatisch, das heißt, wir denken nicht daran, wie wir ihn benutzen können; wir betrachten ihn kontemplativ, wir lieben ihn um seiner selbst willen. Thomas von Aquin sagte, wir lieben die Existenz des Du. Wir lieben die Tatsache, dass die Geliebte vorhanden ist. Jemanden lieben heißt freilich genießen – aber auch leiden. „Ich will Liebe ohne Leiden“, singt Udo Jürgens in seinem unrealistischen Schlager, ein Traum, in den wir uns gern mal hineinversetzen, wohl wissend, dass die Liebe ein anderes Gesicht hat.
Es gibt keine Liebe ohne Leiden, schreibt Josef Pieper. Diese Stadt zu lieben, das heißt nicht nur, sie zu genießen; weder die werbende Geschäftswelt, noch die lockenden Vergnügungsstätten oder die schmeichelnden Politiker dürfen darüber hinwegtäuschen, dass ein Rahmen gesetzt werden muss, dass ein Gewand mal störend eng sein kann, damit der Mensch sich im Gemeinwesen bewegen kann. Ebenso müssen die Bewohner sicherlich manche Störungen ertragen. Dem schauen sie aber nur ins Gesicht, wenn auch das Gegenüber in den vernünftigen Dialog eintritt.
Bamberger und Bamberg-Besucher empfinden beim Betrachten mancher Stellen im Gesicht der Stadt eine besondere Form der Liebe: Nostalgie. „Rückkehr heißt im Griechischen nostos. Algos bedeutet Leiden. Nostalgie ist also das von dem unerfüllten Wunsch zurückzukehren verursachte Leiden“, schreibt Milan Kundera in seinem Roman „Die Unwissenheit“. Wir spüren, dass wir in die schöne Vergangenheit nicht mehr zurückkehren können. An manchen Stellen sind die Maßstäbe sichtbar durchbrochen, ein für allemal sind Strukturen verloren oder zerrissen. Der Münchner Ring durchschneidet den Hain, Tag und Nacht hört man den Autoverkehr. Das Balthasargäßchen reißt eine Wunde in den Kaulbergfuß, wo sich früher das Haus zum Marienbild erhob. Eine Tiefgarage erstreckt sich unter dem Maxplatz, wo früher eine Kirche mit Friedhof war – eine merkwürdige, seelenlose Leere breitet sich oben aus und setzt sich wie ein Fluch immer wieder gegen Versuche durch, dem Areal ein Gesicht zu verleihen. Wie man hier sinnvoll feiern kann, dass sich alle freuen, mitmachen und sich ihres Alltags enthoben fühlen, ist nicht leicht zu beantworten.
Wir müssen Bamberg lesen. Vittorio Magnago Lampugnani ergründet in seinem Buch „Stadt & Text“ (2011) die Architektur der Städte nach den ihnen zugrunde liegenden Texten. In seinem Buch „Im Raume lesen wir die Zeit“ (2003) kritisiert Karl Schlögel diese Tendenz und plädiert dafür, sinnlich-konkret in die Stadt-Räume hineinzugehen: „Texte kann man lesen, in Städte muss man hineingehen.“ Andererseits hat er selbst bereits im Titel das Stichwort „lesen“ und geht nicht in die Räume hinein, ohne vorher – oder währenddessen – unter anderem die entsprechenden Karten und Pläne gelesen zu haben. Seine Anmerkungen (mit Literaturhinweisen) und sein Literaturverzeichnis umfassen 52 kleingedruckte Seiten.
Ich würde sagen: Wir müssen in die Stadt hineingehend und dabei im lebendigen Gesicht Bambergs liebevoll lesen. Wenn wir dieses tun, beleben wir dieses Gesicht, wie wenn sich ein Liebespaar gegenseitig anschaut. Wir beleben auf diese Weise die Stadt in der denkbar menschlichsten Weise.
Wir erfahren so das Gewachsene der Stadt, wir gestalten sie in der Gegenwart und entwickeln Perspektiven für ihr Weiterleben.
Wir lesen den Grünen Markt beispielsweise, erfahren viel über die Fassade von Sankt Martin, über die Geschichte des Brunnens und die ehemaligen Vorkriegsgebäude. Wir lassen uns in einem der Straßencafés nieder, um diesem Bereich ins Gesicht zu sehen. Wir verfolgen die Vorübergehenden Menschen und spüren, wie sich hier alles zu einem Mittelpunkt, zu einem zwanglosen Aufenthaltsort entwickelt hat. Der früher hier beheimatete Einzelhandel hat sich allerdings verändert. Es hat immer wieder Wechsel gegeben, selbst in jüngster Zeit. Das Gesicht der Häuser ist ein anderes geworden. Uns fällt auf: Es gibt Geschäfte, die nicht von vornherein allen Menschen gefallen wollen; sie haben bestimmte Gruppen im Auge – Sinnbild des Zerfalls der Gesellschaft in Einzelgruppen, in „Egos“?
Unsere Liebe, die im Gesicht der Stadt liest, zielt auf die tiefer liegende „Idee“ der Stadt, aus der nach wie vor gemeinsame Werte erwachsen können. Immer wieder wurde von dieser „Bamberg-Idee“ gesprochen (Otto Meyer, 1953), manchmal wurde sie auch relativiert (Bernd Schneidmüller, 2002), insgesamt scheint uns dieser begriffliche Ansatz aber geeignet, weiterzusehen. Wir sehen und lesen weiter.