Abend im Park
In langen sonnigen Nachmittagen
feiert der Frühling Wiederkehr.
Die Schlehdornzweige tragen ihr Weiß,
als blühten sie noch vom Winter her.
Und auch die Abende werden nun länger;
vom Weg her lacht manchmal ein junges Paar.
Die Mädchen tragen das Haar heute strenger,
als man es trug im vergangenen Jahr.
Und über uns stehen die Lerchen im Blau,
und es träumt sich so gut von Urlaub und Meer.
Ein Zug rattert fern, und als leises Prélude
geht der Sommer in unseren Träumen einher.
Werner Bräunig
Von Chrysostomos
Prunus spinosa, der Schlehdorn, setzt jetzt wieder leuchtend weiße Schneebälle ins frühlingshaft junge Grün. Das ist schön anzusehen, und darüber läßt sich auch trefflich schreiben. Gedichte beispielsweise, gern mit Tinte, denn in finsteren Zeiten, im Mittelalter, hat man aus der Rinde der Schlehe die sogenannte Dornrindentinte gewonnen. Das ging, nach einem Bericht, der sich in der Schedula diversarum artium („Über die verschiedenen Künste“) des Benediktinermönches Theophilus Presbyter findet, so: „Man schneidet Dornenzweige von Schlehen im April oder Mai kurz vor dem Ausschlagen und läßt diese einige Tage liegen. Dann wird die Rinde abgeklopft und mit Wasser angesetzt. Dieser Ansatz bleibt ebenfalls einige Tage stehen. Wenn das Wasser rotbraun verfärbt ist, wird die Mischung aufgekocht und mit der Rinde versetzt. Dieser Vorgang wird solange wiederholt, bis die Rinde völlig ausgelaugt, also von allen farbgebenden Bestandteilen gelöst ist. Die so entstandene Brühe wird zum Schluß mit Wein eingekocht und manchmal auch mit Baumharz verdickt und in einem Pergamentsäckchen an der Sonne getrocknet. Zum Schreiben löst man die pulvrige Substanz in warmem Wein.“
Die in Blüte stehenden Schlehdornzweige sind für Werner Bräunig ein Zeichen, daß der Frühling Wiederkehr feiert. Und wie das im Frühjahr so ist, blüht dann auch so manche frische Liebe auf, selbst wenn die Mädchen „heute“ (das Gedicht stammt aus dem Jahre 1961) das Haar strenger tragen, „als man es trug im vergangenen Jahr“, also vielleicht hochtoupiert zu einem sogenannten Bienenstock oder zu einem mit einer Haarnadel zusammengehaltenen Dutt geflochten, statt offen oder als Pferdeschwanz. Dazu Etuikleid oder Tulpenrock, und die Liebe kann, bei aller Strenge, kommen. Die Feldlerchen im Himmelsblau setzen einen Kontrapunkt zum Weiß der Schlehen, und mit ihrem Trillern und Zirpen, vorgetragen in und aus der Luft, auch zu dem von fern ratternden Zug. Da läßt sich schon im Frühling gut vom Sommer träumen, der sich als „leises Prélude“ einstellt und somit an Chopin (op. 28) erinnert oder gar – denn es ist ja einer dieser langen Sonnennachmittage – an den Anfang von Claude Debussys Prélude à l’après-midi d’un faune von 1894.
In den späten Fünfzigern und frühen Sechzigern galt Werner Bräunig, er studierte (und lehrte anschließend) am Leipziger Literaturinstitut „Johannes R. Becher“, als einer der großen Hoffnungsträger der DDR-Literatur. Von ihm stammt der Aufruf „Greif zur Feder, Kumpel“, der zum Wahlspruch der Ersten Bitterfelder Konferenz von 1959 wurde, welche zum Ziel hatte, die Trennung von Kunst und Leben, die Entfremdung von Künstler und Volk aufzuheben (Stichwort: die Literaturzirkel der „Bewegung Schreibender Arbeiter“).
Ehe er nach Leipzig ging, war der 1934 als Sohn eines Hilfsarbeiters und einer Näherin in Chemnitz geborene Bräunig in Schwarzmarkt- und Schmuggelgeschäfte verwickelt, die ihm drei Jahre Haft einbrachten. Weil er in einem Bergwerk und einer Papierfabrik Arbeitsdienst leistete, wurde er vorzeitig entlassen und schlug sich als Gelegenheitsarbeiter durch. Nach ersten Veröffentlichungen in Zeitschriften wie Junge Kunst und neue deutsche literatur erschien im Mitteldeutschen Verlag in Halle sein Erzählungsband In diesem Sommer (1960). Das ist das Jahr, in dem Bräunig mit der Arbeit an seinem stark autobiographisch geprägten Roman Rummelplatz beginnt. Er sollte, angelegt auf über tausend Seiten und mehrere Bände, Fragment bleiben.
Als 1965 im Oktoberheft der neuen deutschen literatur der Vorabdruck eines Kapitels erscheint, handelt sich Bräunig im SED-Blatt Neues Deutschland scharfe Kritik ein wegen unterstellter „Beleidigung der Werktätigen und der sowjetischen Partner“, woraufhin er die Arbeit am Roman abbricht. Am System und an Alkoholsucht leidend, stirbt Bräunig Mitte August 1976 in Halle-Neustadt. Erst 2007 erschien das Rummelplatz-Fragment im Aufbau-Verlag und wurde prompt für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert (der dann allerdings an Ingo Schulze ging: Handy. Dreizehn Geschichten in alter Manier).
Bräunigs Motiv des Schlehdorns, des Prunus spinosa, wie auch das der einander Liebenden, nimmt Heiner Müller (1929 bis 1995), den man wohl kaum vorzustellen braucht, in seiner schönen und schlichten „Romanze“ von 1956 – als Carlo Pedersoli alias Bud Spencer in Melbourne über die 100 Meter Freistil auf den elften Platz kam und Hans Günter Winkler mit seiner Wunderstute Halla bei den Reiterspielen in Stockholm Olympiageschichte schrieb – vorweg:
Romanze
Früh unter dem Schlehdorn
Zwei Tropfen fielen auf dein Haar.
Und die waren von dem Regen übrig,
Der die Nacht gefallen war.
NB: Beide Gedichte sind der von dem vor anderthalb Jahren zu früh in Göttingen verstorbenen Heinz Ludwig Arnold und von dem in Siegen lehrenden Germanisten Hermann Korte edierten Anthologie Lyrik der DDR entnommen. Erschienen ist sie 2009 bei S. Fischer. Sie kann nur empfohlen werden. Und zwar ganz eindringlich.