Sterben ist eine Kunst, wie alles. Ich bin darin eine Meisterin. Eine Erinnerung an Sylvia Plath, die vor einem halben Jahrhundert den Weg Ophelias, und vieler anderer, einschlug.

Einem vaterlosen Sohn

Du wirst bald eine Abwesenheit spüren,
Die neben dir wächst, wie ein Baum,
Ein Baum des Todes, farblos, ein australischer Gummibaum –
Der seine Blätter verliert, vom Blitz entmannt – eine Illusion,
Und ein Himmel wie der Rücken eines Schweins, ein völliger Mangel an Zuwendung.
Aber jetzt gerade bist du stumm.
Und ich liebe deinen Unverstand,
Seinen blinden Spiegel. Ich schaue hinein
Und entdecke nur mein eigenes Gesicht, und du glaubst, das sei lustig.
Mir tut es gut,
Wenn du nach meiner Nase greifst, einer Leitersprosse.
Eines Tages berührst du vielleicht das Falsche –
Die kleinen Schädel, die zerstörten blauen Hügel, die gottverdammte Stille.
Bis dahin ist mir dein Lächeln wie eine zufällig gefundene Münze.

Sylvia Plath

Von Chrysostomos

Im März 1969 bringt sich in London die aus Berlin gebürtige Assia Wevill, geborene Gutmann, um. Dergleichen kommt, leider, vor. Mit in den (durch Schlaftabletten und Gas herbeigeführten) Tod nimmt sie, auch das kommt leider vor, die vierjährige Tochter, Alexandra Tatiana Elise, gerufen Shura. Deren Vater, und Assias Liebhaber, war Ted Hughes. Der wiederum, wie man weiß, mit Sylvia Plath verheiratet war.

In den frühen Morgenstunden, vermutlich gegen halb fünf, des 11. Februar 1963 – es war der kälteste Winter des vergangenen Jahrhunderts – nimmt eine junge Frau in der Fitzroy Road 23 (William Butler Yeats hatte einst in dem Haus gewohnt) im Londoner Stadtteil Camden Schlaftabletten, dichtet Tür und Fenster mit Handtüchern ab und steckt den Kopf in den Gasofen, alle Hähne aufgedreht. Es ist Sylvia Plath, die keinen Ausweg mehr weiß. Den Kindern, Frieda und Nicholas, hatte sie noch Milch und Brot an ihr Bett gestellt, und die Tür hatte sie versiegelt, damit das Gas nicht in ihr Zimmer im zweiten Stock dringen würde. (Auch Nick sollte, 2009, den Tod aus freien Stücken suchen. Er erhängte sich in Fairbanks, Alaska, wo er als Biologe und Süßwasserfischexperte an der Universität forschte. Nicholas litt unter Depressionen.)

Begegnet waren sich die aus Jamaica Plain, einem historischen Stadtteil Bostons, gebürtige Sylvia und der aus dem Westen Yorkshires stammende Ted im Februar 1956 auf einer Party in Cambridge, wo Plath am Newnham College als Fulbright-Stipendiatin studierte. Sylvia hatte sich in die ihr liebsten Farben gekleidet, Rot und Schwarz. Sie war auf eine Eroberung aus, auf die Eroberung von Ted Hughes, dessen Gedichte sie auswendig gelernt hatte, und sie hatte sich bereits vor der Fete mit Scotch Whisky in Miller’s Bar Mut angetrunken: „Ich sehne mich so nach jemandem […]. Eine Art glühender Liebe, mit der ich leben kann. Mein Gott, ich würde so gern kochen und haushalten, Kraft in die Träume eines Mannes fluten lassen und schreiben, wenn er reden […] und arbeiten könnte und leidenschaftlich seine Laufbahn verfolgen wollte. Ich ertrage es nicht, daran zu denken, daß diese Fähigkeit, zu lieben und zu geben, in mir braun und welk wird“, hielt Plath in ihrem Tagebuch fest.

Zurück zur Party: „Dann geschah das Schlimmste. Dieser große, dunkle, tolle Junge, der einzige, der groß genug für mich war, der sich bei den Frauen herumgedrückt hatte und nach dessen Namen ich mich erkundigte, als ich den Raum betrat, […] kam herüber, sah mir durchdringend in die Augen, und es war Ted Hughes.“ Man wich in ein anderes Zimmer aus, Ted „schüttete Brandy in ein Glas, und ich schüttete ihn dorthin, wo mein Mund zuletzt gewesen war.“ Und dann „küßte er mich peng, knall auf den Mund und reißt mir das Haarband vom Kopf, mein schönes rotes Haarband, das die Sonne und viel Liebe überlebt hatte, so eins, wie ich es wohl nie wiederfinden werde, und meine silbernen Lieblingsohrringe. ‚Ha, die werd‘ ich behalten!‘, brüllte er. Und als er mich auf den Hals küßte, biß ich ihm lange und fest in die Wange, und als er das Zimmer verließ, lief ihm Blut über das Gesicht.“

Viel Zeit verlieren die beiden nicht, denn, schreibt Sylvia in einem Brief nach Hause, „ich habe endlich den Mann meines Lebens gefunden, […] und nachdem wir uns drei Monate lang täglich gesehen und alles gemeinsam gemacht hatten, angefangen vom Schreiben bis zum Vorlesen, Wandern und Kochen, gab es auch nicht mehr den Schatten eines Zweifels in unserer Seele.“ Am 16. Juni (am Bloomsday, dem Tag, an dem Ulysses spielt, der Jahrhundertroman von James Joyce) wird heimlich geheiratet. Es fehlt noch ein Trauzeuge, und so überreden die beiden den Küster dazu, einzuspringen, der gerade vor der Kirche St. George the Martyr in Holborn mit einem Bus voller Kinder steht, um mit ihnen in den Londoner Zoo zu fahren. Was er auch tun wird, aber erst, nachdem die Zeremonie vorüber ist, nachdem Sylvia und Ted ein (Ehe-)Paar sind.

Es folgen Flitterwochen in Paris und in Benidorm, damals noch ein kleines Fischerdorf. Flitterwochen? Sylvia und Ted arbeiten: von 8 Uhr 30 bis 12 schreiben sie, nach dem Mittagessen – Sylvia kocht – geht es an den Strand, von 16 bis 18 Uhr wird erneut geschrieben, und nach dem Abendessen „studieren wir Sprachen“, bis um 22 Uhr. Sylvia übersetzt Teile von Stendhals Le Rouge et le Noir (1830), Ted lernt Spanisch.

Plath setzt sich für die Gedichte von Hughes ein, tippt sie säuberlich ab, schickt sie an Zeitungen und Magazine und sendet sie, sofern sie abgelehnt werden und zurückkehren, sofort wieder aufs neue los. The Hawk in the Rain (Der Habicht im Regen), Teds Debüt von 1957, macht ihn auf einen Schlag bekannt. Auch diese vierzig Gedichte hatte Sylvia abgetippt und beim Lyrikwettbewerb des New York Poetry Center (die Jury: Marianne Moore, W. H. Auden, Stephen Spender) eingereicht. Ted gewann, und The Hawk wurde veröffentlicht.

Von September 1957 an unterrichtete Plath am Smith College in Northampton/Massachusetts, wo sie auch studiert hatte. Glücklich machte sie das nicht, und im Jahr darauf zog das Paar nach Boston, wo Sylvia als Sekretärin in einem Krankenhaus arbeitete. Abends besuchte sie einen Schreibkurs bei Robert Lowell, in welchem sie Anne Sexton (auch sie sollte sich, von Depressionen zermürbt, umbringen) kennenlernte, die wie John Berryman (alkoholkrank und depressiv sprang er von der Brücke), wie Lowell und Plath selbst zu den „confessional poets“ gehörte, zu einer Gruppe von Dichtern, die über eigene Erfahrungen, Leiden, über ihre Sexualität schrieben. Plath hierzu, in einem Gespräch mit Peter Orr: „I think that personal experience is very important“, persönliche Erfahrung, aber eben nicht in narzisstischem Sinn. Diese experience sollte relevant sein, „relevant to the larger things, the bigger things such as Hiroshima and Dachau and so on.“

Nicht nur in den Gedichten von Plath, auch in ihren Erzählungen und ihrem unter dem Pseudonym Victoria Lucas keine vier Wochen vor ihrem Suizid veröffentlichten (Schlüssel-)Roman Die Glasglocke werden Eigenerfahrungen zu Literatur. Im August 1953 hatte Plath versucht, sich mit Schlaftabletten das Leben zu nehmen, wurde von ihrem Bruder rechtzeitig gefunden und mußte sich im Krankenhaus einer Elektroschocktherapie unterziehen. Ereignisse, die in The Bell Jar, wie das Original heißt, einflossen. Daß Virginia Woolf nicht ganz unwichtig ist für den Roman, wundert nicht. Auch sie ging. Erst in den Fluß, die Ouse, und dann, und damit, in den Tod.

Hughes und (die schwangere) Plath kehrten im Dezember 1959 nach England zurück. Zunächst lebten sie in London, in Primrose Hill, wo anfangs April 1960 Frieda geboren wurde, heute Lyrikerin und Malerin. Im Herbst kam Sylvias erster Gedichtband heraus, The Colossus, im Sommer darauf zog die junge, nicht eben reiche Familie aufs Land, in ein altes Pfarrhaus, das idyllische Court Green, in Devon. Nach einer früheren Fehlgeburt kam im Januar 1962 Nicholas zur Welt, und im Mai, gemeinsam mit ihrem Mann, dem Dichter und Übersetzer David, Assia Wevill zu Besuch. Mit Assia sollte Ted Sylvia dann betrügen. Als dies aufflog, warf Sylvia ihn aus dem Haus. Es kam wieder zu einer versuchten Versöhnung, bei einem Urlaub in Irland folgte aber ein weiterer Bruch, und im Oktober holte Ted, den Sylvia jetzt verachtete, weil er die enge Vertrautheit und Liebe zwischen ihnen „wegen eines Hauchs von Chanel“ kaputt gemacht hatte, endgültig seine Koffer in Devon ab.

Allein im Pfarrhaus, nur mit den Kindern Frieda und Nicholas und hin und wieder einem Kindermädchen, schrieb Sylvia Plath in einem kreativen Rausch von Ende September 1962 an („For a Fatherless Son“, vom 26. September, machte den Auftakt) bis Anfang Dezember die Gedichte, die sie berühmt machen sollten, die meisten davon veröffentlicht, postum, in Ariel. Um der Abgeschiedenheit im ländlichen Devon zu entkommen, suchte sich Sylvia zusätzlich eine Bleibe in London, die sie schließlich in der Fitzroy Road fand. Ted kam mehrmals wöchentlich zu Besuch, um die Kinder zu sehen.

Obwohl eben erst ihr Romandebüt erschienen war (die Kritiken waren nicht euphorisch, aber doch überwiegend wohlwollend), obwohl sie weiterhin Gedichte schrieb, obwohl sie sich mit Freunden wie dem Lyriker und Essayisten – und Bergsteiger – Al Alvarez traf, obwohl sie Doris Lessing vorgestellt wurde, fiel Sylvia Plath wieder in ein depressives Loch. In einen Abgrund, aus dem sie auch das von ihrem Arzt verschriebene Antidepressivum, ein Mono-Amino-Oxidase-Hemmer, nicht mehr herausholen sollte.

*

For a Fatherless Son

You will be aware of an absence, presently,
Growing beside you, like a tree,
A death tree, color gone, an Australian gum tree –
Balding, gelded by lightning – an illusion,
And a sky like a pig’s backside, an utter lack of attention.
But right now you are dumb.
And I love your stupidity,
The blind mirror of it. I look in
And find no face but my own, and you think that’s funny.
It is good for me
To have you grab my nose, a ladder rung.
One day you may touch what’s wrong –
The small skulls, the smashed blue hills, the godawful hush.
Till then your smiles are found money.

NB: Alissa Walser hat für Suhrkamp Ariel in der Fassung letzter Hand übertragen. Die Gedichte werden zweisprachig gebracht, und zwar in der ursprünglichen Anordnung und Auswahl von Plath, wie sie sich im Februar 1963 auf ihrem Schreibtisch in einem schwarzen Klemmhefter fanden. Wie der Verlag mitteilt, bleibt der „legendäre Band 380 der Bibliothek Suhrkamp mit Erich Frieds Übertragungen, von dem bis heute mehr als 27.000 Exemplare verkauft wurden“, lieferbar.

NBB: Walser hat auch – für die Frankfurter Verlagsanstalt – Die Tagebücher (1997) übersetzt. Da Chrysostomos diesen wirklich schönen Band in seinem zeitweiligen Bücherpapierbergchaos gerade nicht finden kann, wird für Zitate aus den Journals zurückgegriffen auf einen nicht minder schön aufgemachten Band, die Plath-Biographie von Anne Stevenson, bei der Frankfurter Verlagsanstalt 1989 erschienen, in der Übertragung von Manfred Ohl und Hans Sartorius. Die darin zitierten Gedichte hat allerdings Friederike Roth ins Deutsche gebracht. Überhaupt ist es, mehr als Suhrkamp, die Verlagsanstalt, die sich bei uns um Sylvia Plath verdient macht. Im vergangenen September erschienen in Frankfurt, jeweils als Neuausgabe, zwei Bände mit Erzählungen, zum einen Die Bibel der Träume, Zungen aus Stein zum anderen.

NBBB: Ebenfalls zweisprachig liegt, bei Insel, der Band Liebesgedichte (2009) vor, für den Jutta Kaußen etwas über drei Dutzend Gedichte aus dem Gesamtwerk ausgewählt, übersetzt und kommentiert hat, „Liebesgedichte“, die, wie der Münchner Anglist Tobias Döring meint, „nicht zuletzt deshalb so anregende Lektüre“ bieten, „weil sie uns durchweg vor die interessante Frage“ stellen, „was wir unter einem solchen Titel eigentlich verstehen.“

NBBBB: Übersetzt von Reinhard Kaiser ist in einer wunderbar aufgemachten Ausgabe im Januar bei Suhrkamp Die Glasglocke herausgekommen, ein halbes Jahrhundert nach Erscheinen des Originals.

NBBBBB:Catherine Bowmans The Plath Cabinet (New York: Four Way Books, 2009) ist eine Art Lebensbeschreibung in Gedichten. Besonderes Augenmerk legt Bowman dabei auf die bislang wenig beachteten zeichnerischen Arbeiten von Plath, die doch von einer großen Begabung zeugen. Bowman lehrt Kreatives Schreiben an der Indiana University, Bloomington. In der dortigen Lilly Library befinden sich große Teile des Nachlasses von Plath. In Bloomington erscheinen auch die Plath Profiles, ein interdisziplinäres Journal für Sylvia-Plath-Studien.