von Dr. Ulrich Schneider
wir haben uns heute hier an dieser Gedenktafel versammelt, um – wie es schon gute Tradition in Bamberg ist – am Gedenktag für die Opfer des Faschismus aller Ermordeten und Verfolgten des NS-Regimes zu gedenken.
Sie alle wissen, dass der 27. Januar nicht nur in unserem Land als Gedenktag begangen wird. Selbst die Vereinten Nationen haben beschlossen, diesen Tag als „Internationalen Gedenktag für die Opfer des Holocaust“ zu begehen. Dies ist m. E. ein wichtiges Signal, dass solche Massenverbrechen, die durch rassistische Ausgrenzung in politischer und religiöser Intoleranz begründet, in keiner Form von der Völkergemeinschaft toleriert oder gar verharmlost werden dürfen.
Bevor die sowjetischen Truppen am 27.Januar 1945 das Vernichtungslager Auschwitz befreiten, hatten sie einen langen Weg mit vielen militärischen Hindernissen zurücklegen müssen. An zwei Daten möchte ich in diesem Zusammenhang erinnern:
Am 2. Februar 1943, also vor 70 Jahren, erlebte die Welt den Sieg der Roten Armee bei Stalingrad. An diesem Tag kapitulierten die deutsche 6. Armee unter Generalfeldmarschall Paulus und ihre Verbündeten vor den Verbänden der 62. und 64. Roten Armee.
Die Schlacht von Stalingrad stellte einen historischen Wendepunkt im Kampf der Anti-Hitler-Koalition mit dem expansionistischen Anspruch des deutschen Faschismus dar. Militärisch wurde hier zum ersten Mal der faschistische Vormarsch gestoppt und der „unbesiegbaren“ Wehrmacht eine vernichtende Niederlage beigebracht.
Für die Widerstandsbewegung in allen okkupierten Ländern und in Deutschland symbolisierte die Schlacht von Stalingrad die kommende Niederlage des Faschismus. Frauen und Männer im Widerstand zogen daraus Kraft, Motivation und Optimismus für die Fortführung ihres antifaschistischen Kampfes.
Das zweite Datum ist ebenfalls der 27. Januar, jedoch im Jahr 1944. An diesem Tag wurde Leningrad, die Stadt, die einer 900-tägigen Belagerung durch die faschistischen Truppen ausgesetzt war, durch die Rote Armee befreit. Am Schicksal dieser Stadt, die bis heute in Russland zurecht den Titel „Heldenstadt“ trägt, bewies sich der große Heldenmut nicht nur der Armee, sondern auch der sowjetischen Zivilbevölkerung, die unter größten Opfern und Entbehrungen den Aggressoren widerstanden.
Seriöse Historiker gehen in ihren Forschungen von etwa 1,1 Millionen Opfern unter der Zivilbevölkerung der Stadt aus, die infolge der Blockade ihr Leben verloren. Die meisten dieser Opfer verhungerten oder starben durch die Bombardierungen der faschistischen Luftwaffe. Dieser Massenmord durch Verhungern wurde von der faschistischen Wehrmacht gezielt inszeniert und ist in diesem Ausmaß weltweit beispiellos.
Und es war ein Jahr später, als am 27. Januar 1945 die sowjetischen Truppen Auschwitz befreiten. Sie trafen zwar nur noch auf 6000 Häftlinge, Alte, Kranke und nicht mehr Transportfähige. Jedoch fanden sie Leichenberge und Hinterlassenschaften der Ermordeten, sowie Dokumente und Materialien, die das ganze Ausmaß dieses industriellen Massenmordes der faschistischen Vernichtungspolitik verdeutlichten. Damit wurde einmal mehr vor den Augen der ganzen Welt offenbar, welche Verbrechen der deutsche Faschismus auf sich geladen hatte, und Auschwitz ist der Ort, mit dem sich die Gesamtheit der menschenverachtenden faschistischen Vernichtungspolitik, die auch in Lagern wie Belzec, Sobibor oder Majdanek umgesetzt wurde, verbindet.
Die Forderung, dass sich solch ein Menschheitsverbrechen nicht wiederholen dürfe, verbanden die Vereinten Nationen mit einem Appell an alle Mitgliedsstaaten, Programme zu entwickeln, die darauf hinzielen, dass zukünftige Generationen politische Lehren aus diesen schrecklichen Erfahrungen der Menschheit mit dem verbrecherischen Faschismus ziehen können. Dass die Vereinten Nationen über 60 Jahre nach der Befreiung einen solchen Beschluss fassen mussten, macht aber auch deutlich, dass der gesellschaftliche Umgang und die Erinnerung an diesen Völkermord keine Alltagsnormalität darstellt.
Und in der Tat gibt es bis heute immer wieder neonazistische Gruppen, Geschichtsrevisionisten und extrem rechte Aktivisten, die sich als Auschwitz-Leugner betätigen. Dies zeigen beispielhaft die aktuellen Verurteilungen gegen Gottfried Küssel in Österreich wegen Wiederbetätigungsverbot oder Ex-Bischof Richard Williamson wegen Auschwitz-Leugnung. Unsere bundesdeutsche Neonazi-Szene bejubelt ihre „Helden“. Dabei sind es nicht nur die gewalttätigen Teile der Naziszene, wie die Sympathisanten des „Nationalsozialistischen Untergrundes“, sondern auch die NPD, die mit ihren provokativen Vorstößen selbst im sächsischen Landtag über den „Bomben-Holocaust“, wie sie die alliierten Luftangriffe titulierten, zur Verharmlosung und Rechtfertigung der faschistischen Massenverbrechen beitragen.
Und wenn heute im Zusammenhang mit dem vom Bundesrat offiziell beantragten NPD-Verbotsverfahren behauptet wird, dass viele der volksverhetzenden Aussagen gar nicht der NPD zuzurechnen seien, sondern von V-Leuten des Verfassungsschutzes stammten, dann kann das nicht als Entlastung für die Nazis herangezogen werden, sondern zeigt vielmehr die Richtigkeit unserer Aussage: „V-Leute sind Faschisten mit V“ und unterstreicht den politischen Skandal der staatlichen Einrichtungen – insbesondere der Landesämter für Verfassungsschutz, die solche Elemente nicht nur anwerben, sondern diese auch noch mit ausreichenden finanziellen Mitteln für ihre verfassungswidrige Tätigkeit ausstatten.
Mittlerweile ist es offenkundig, dass nicht nur der „Thüringer Heimatschutz“, eine der gewalttätigen Gruppen der Neonazi-Szene, mit Hilfe der Gelder des Verfassungsschutzes auf- und ausgebaut werden konnte.
Der heutige Gedenktag ist daher auch eine politische Mahnung, solche Kräfte und Strukturen mit allen Mitteln der demokratischen Gegenwehr aktiv zu bekämpfen. Und mir ist durchaus bekannt, dass gerade die Antifaschisten in dieser Region in vielen Auseinandersetzungen und engagierten Einsätzen dazu beigetragen haben, dass der Handlungsraum neofaschistischer Kräfte begrenzt blieb.
Ich möchte einen weiteren Gedanken ansprechen.
Als 1996 der 27. Januar als Gedenktag etabliert wurde, forderte die VVN-BdA die Ernsthaftigkeit des neuen Gedenktages unter Beweis zu stellen.
„Wer des 27. Januar 1945 gedenkt, muss auch den 30. Januar 1933 mitdenken. Ursachen und Herkunft des Faschismus sind notwendige Bestandteile jeder Erinnerungsarbeit… Das Gedenken an die Opfer muss verbunden sein mit der Erinnerung daran, wer die Täter waren. Das heißt: Benennung der Schuldigen und der Nutznießer an der Errichtung der nazistischen Herrschaft in Deutschland und an der Entfesselung des Krieges.“
Denn wenn man nicht behaupten will, dass „Hitler ein Betriebsunfall der Geschichte“ gewesen oder der 30. Januar 1933 „schicksalhaft“ über unser Land gekommen sei, wird man nicht umhinkommen, sich mit den gesellschaftlichen Kräften zu beschäftigen, die ein Interesse an der Errichtung und Etablierung der faschistischen Herrschaft hatten. War es abstrakt „das Volk“ oder waren es nicht vielmehr benennbare Personengruppen, die ihren politischen Beitrag zur Machtübertragung geleistet haben?
Und die politisch brisanteste Frage ist sicherlich die Haltung der jeweiligen Gruppen der gesellschaftlichen Eliten – politische Parteien, Unternehmer, Großgrundbesitzer, Akademiker, Kirchen, Vertreter des Militärs – gegenüber der Weimarer Demokratie und einer faschistischen Krisenlösung. Es gilt zu untersuchen und in der geschichtlichen Debatte zu klären, welche Gruppen welches Interesse an der Bewahrung oder der Zerstörung von Demokratie und Republik hatten.
Wenn man in diesem Zusammenhang einem Guido Knopp folgt, dann erfährt man, dass es beispielsweise unter den Großindustriellen und Bankiers zwar „Hitlers Helfer“ gegeben habe, diese ihm jedoch mit großer Skepsis begegnet seien und mehr zu den „Getriebenen“ und nicht zu den „Treibenden“ gehörten. Zu einem solchen Urteil kann man jedoch nur kommen, wenn man die Reden Hitlers vor dem Düsseldorfer Industrie-Club oder die Gespräche mit Vertretern des IG Farben-Konzerns ignoriert. Die Vertreter der IG Farben kamen bereits 1932 zu dem Urteil: „Der Mann ist vernünftiger, als ich dachte“. Und die enge Verbundenheit dieses Konzerns mit der faschistischen Herrschaft war über den „Vier-Jahres-Plan“ nicht nur Voraussetzung für die Kriegs- und Eroberungspolitik, sondern auch Teil der Massenverbrechen in Auschwitz, wo dieser Konzern in Auschwitz-Monowitz mit KZ-Häftlingen eine ihrer größten Produktionsstätten betrieb.
Andere Modernisierer des Geschichtsbildes sehen die Verantwortung für das NS-Regime bei der Masse der Bevölkerung, die sich durch soziale Demagogie und Rassismus in das faschistische System einbinden ließ und aktiv diese Verbrechen unterstützte. So richtig die Aussage ist, dass der deutsche Faschismus sich – und das bis zuletzt – auf eine hohe Akzeptanz in dem Teil der Bevölkerung stützen konnte, die der „Volksgemeinschaft“ zugerechnet wurden, so zentral war aber auch, dass diese Zustimmung insbesondere durch ein System von Terror und gesellschaftlicher Ausgrenzung geschaffen wurde.
Und – und daran gilt es auch am 27. Januar zu erinnern – es dennoch mutige und politisch bewusste Menschen, Männer und Frauen, gab, die diesem Regime widerstanden. Sie hatten ihre politischen Wurzeln zumeist in der Arbeiterbewegung, in den Gewerkschaften, in den Arbeiterparteien oder den Arbeiterjugendorganisationen, zu ihnen gehörten aber auch jene, die ihre religiösen Überzeugungen höher gewichteten, als das faschistische Menschenbild. Dies waren zumeist Einzelne, die aber mit Mut und Standhaftigkeit für ihre Ideale einstanden.
Ich will und kann an dieser Stelle nur einige Namen erwähnen:
Franz Xaver Aenderl, bayerischer KPD-Politiker und antifaschistischer Schriftsteller, wurde 1933 im Landgerichtsgefängnis Bamberg inhaftiert. Nach seiner Entlassung emigrierte er 1934 in die CSR und später nach Großbritannien. Am 24. April 1933 wurden fünf Kommunisten aus Bamberg in das KZ Dachau deportiert. Im September 1933 wurde die Verhaftung von acht weiteren Antifaschisten gemeldet.
Im Januar 1937 machten sich drei junge Antifaschisten aus Bamberg und Umgebung auf den Weg nach Spanien, um in den Internationalen Brigaden gegen den Faschismus zu kämpfen. Sie wurden verhaftet. Im Prozess vor dem Sondergericht Bamberg wurde u.a. der 23 jährige ehemalige KJVD Funktionär Adam Kaim wegen „Hochverrates“ angeklagt.
Nicht vergessen möchte ich aber auch den katholischen Juristen Hans Wölfel, der als konservativer Anwalt manchen Angeklagten vor dem Sondergericht verteidigte. Er wurde 1943 wegen „Wehrkraftzersetzung“ selbst angeklagt, am 10. Mai 1944 zum Tode verurteilt und am 3. Juli 1944 in Brandenburg-Görden hingerichtet.
Sie an diesem Tag nicht zu vergessen, ist auch deshalb wichtig, damit das Gedenken an die Opfer der Verbrechen nicht das Nachdenken über Möglichkeiten und Perspektiven unseres politischen Handelns heute und morgen verdrängt. Theodor Adorno hat im Zusammenhang mit der Erinnerung der faschistischen Menschheitsverbrechen seinen pädagogischen Imperativ formuliert: „Dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die erste Forderung an Erziehung!“
„Dass Auschwitz nicht noch einmal sei“, wird aber nur möglich, wenn wir mit allen, die eine solidarische, gerechte, friedliche und menschenwürdige Gesellschaft anstreben, zusammenwirken.
Unsere geschichtspolitische Erinnerung an den 27. Januar und an den 30. Januar 1933 bleibt dann nicht folgenlos, wenn wird uns der Verantwortung für die Verwirklichung der Demokratie in unserem Land heute und den notwendigen gesellschaftlichen Widerstand gegen Rechtsentwicklungen und antidemokratische bzw. rassistischer Tendenzen und politische Kräfte, die diese Form faschistischer Krisenbewältigung und Herrschaft propagieren, stellen.
Getreu der Verpflichtung des Schwurs der überlebenden Häftlinge von Buchenwald vom 19. April 1945:
„Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.
Das sind wir unseren gemordeten Kameraden, ihren Angehörigen schuldig.“
Bamberg, 27. Januar 2013
Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen (Primo Levi)