In einem Hotelzimmer
Poesie
ist Irrtum –
eine Hand die
schlaftrunken
auf dem Kopfkissen tastet
nach einer
anderen Hand –
und zwischen beiden
liegt der
Atlantik
Ludwig Steinherr
Von Chrysostomos
Vor fünf Jahrzehnten in der bayerischen Kapitale geboren, hat Ludwig Steinherr, dem wir naturgemäß nicht nur das obige Gedicht verdanken, an der Ludwig-Maximilians-Universität Philosophie studiert, in seiner – ausgezeichneten – Dissertation unter anderem Hegel berührt, hat 1992 gemeinsam mit Anton G. Leitner die nicht unwichtige, noch immer lebendige, Zeitschrift Das Gedicht lanciert, ist ein Jahr später in die Bayerische Akademie der schönen Künste berufen worden, wirkt als einer der Juroren des Münchner Lyrikpreises (welcher 2012 an die Zürcherin Anne-Marie Kenessey ging) und ist seiner Heimatstadt immer treu geblieben.
Gedichte entstehen. Beispielsweise, bei Philip Larkin, bei Robert Gernhardt, auch bei Günter Eich, in der Bahn. Letzterer, also Eich, lauscht auf der Fahrt im „D-Zug München-Frankfurt“ dem „sommerlich gewesene[n] Gesang / der Frösche von Ornbau“ an der Altmühl nach. Bahnstationen sind Abschiedsorte oft, und ein schweres Herz greift leicht zur Feder.
Schwere Herzen (Alleinreisender, Alleinseiender) finden sich gern auch, und nicht wenig, noch selten, in Hotels. Auf dem Zimmer, früh, am Morgen (Aubade: so ist gar eine lyrische Traditionslinie entstanden), wenn die Sonne die eben sich noch Liebenden an den Abschied gemahnt, oder schon gar, wenn die Geliebte sehseemeilenweit („And miles to go before I sleep“; Robert Frost), atlantikweit in realiter, nicht aber in Gedanken, denn in Gedanken gegenwärtig ist sie durchaus – darin liegt ja der Schmerz – sehr nah, wenn die Geliebte also atlantiksehseemeilenweit entfernt ist. Und doch so nah.
In Hotelzimmern tun es, mehrmals gleich, Raoul Schrott (1995), auch Cees Nooteboom (2000; Reiseerzählungen, aber eben doch auch Lyrisches, der Poesie Nahes), sodann Uwe Kolbe (in Roma, da ist Amor nicht weit, und auch nicht ora[l] et labora, Lust mithin, zunächst, und dann die Lust am Schreiben, ohne Last, 1998). Und, recht aktuell, Ludwig Steinherr.
Daß nun Poesie ein Irrtum sei, hat Ernst Jandl („lichtung“) längst und einst und (wort-)spielerisch widerlegt. Und auch Steinherr mag man das, nach inzwischen über einem Dutzend Gedichtbände, kaum abnehmen. „In einem Hotelzimmer“ ist eines der schönsten von inniger Liebe, von Seh- und Sehnsucht erfüllten Gedichte, die wir in den letzten Monaten, wenn nicht Jahren, lesen durften. Das Hotel, das Zimmer, das eine, mag sich in Notre Dame befinden, im Mittleren Westen der USA, wo Steinherr auf Einladung von Vittorio Hösle (dessen Versuch über das Komische, von 2001, nämlich bei Woody Allen, sich zu lesen lohnt) an der Universität weilte. Die andere Hand aber, nach welcher die eine „schlaftrunken / auf dem Kopfkissen tastet“, mag es dem (so direkt gar nicht präsenten) lyrischen Ich gleichtun, vielleicht in München, wir wissen es nicht, und es tut auch nichts zur Sache, mag also gleichfalls tasten, nach jener Hand des zeitweiligen, des ehemaligen Gegenübers.
„Und trunken von Küssen / Tunkt ihr das Haupt / Ins heilignüchterne Wasser“ (des Atlantiks, der Isar, des Lake Michigan?). Den Tastenden, den Suchenden, den Liebenden – wir wünschen es ihnen. As soon as possible. Und so oft als eben möglich. Irrtum, und schon gar der Poesie, ausgeschlossen.
(En passant vielleicht als geeignete Gedankenbegleitmusik: „I want to hold your hand“; und als weiteres Kissengedicht „Ample make this bed“, von Emily Dickinson; den Roman dazu, zu Dickinson, hat, depressionsgeplagt, William Styron geschrieben, verfilmt worden ist er mit Meryl Streep; auch Der Umweg, von Gerbrand Bakker, 2012 bei Suhrkamp erschienen, geht auf „Ample“ und auf Dickinson ein.)
Wer Lust auf mehr Steinherr hat, kann zu den frischen und erfrischenden Ausgewählten Gedichten greifen,herausgebracht (mit einem Vorwort von Vittorio Hösle) in der Lyrikedition 2000 des Münchner Allitera-Verlages, in deren Reihe auch Ganz Ohr sich findet, Steinherrs jüngster Band. So sei man denn ganz Ohr! Ach ja: Happy new ears!
NB: Für Wulf Segebrecht, den emeritierten Bamberger Germanisten und Lyrikkenner von Gnaden, ist es „höchste Zeit“, Steinherr als „einen der eindringlichsten Lyriker der Gegenwart öffentlich wahrzunehmen“. Öffentlich, also über eine kleine, ohnehin poesieverrückte Gemeinde hinaus. So ist es. Allerhöchste Zeit!
Werter Herr Chrysostomos,
nehmen Sie meinen ausdrücklichen Dank für das reiche geistige Plaisir, das mir Ihr Essay bereitet hat!
Zweifelsohne hat Prof. Segebrecht – tatsächlich ein fein spürender Lyrikkenner von seltenen Gnaden – sehr Recht, wenn er eine breitere Wahrnehmung Ludwig Steinherrs als längst überfällig einklagt. Allerdings und andererseits bricht er seine Lanze für diesen Dichter – glücklicherweise – bei immer zahlreicheren Lesern bereits (wenn dieser Bildbruch denn gestattet wäre) an weit offenen Türen, da Steinherr ihnen seit Jahrzehnten nicht nur ein Begriff, sondern mit seinen Gedichten ein beständiger Lebensbegleiter geworden ist.
Als Spätberufener in diesen Kreis bitte ich nun, Ihrer kundigen und panoramatisch ausgreifenden Darlegung ein minutiöses Scherflein meiner eigenen analytischen Faszination nachtragen zu dürfen, die sich eben vornehmlich an dem von Ihnen ausgewählten Gedicht in Verbindung mit Ihren Ausführungen entzündete.
Denn jener Text scheint mir für Steinherrs Oeuvre ein charakteristisch aufschlussreicher zu sein, in Sonderheit für seine Art der Verschränkung von Denken und Vorstellung. Nimmt man etwa den Titel und die ersten beiden Verse, so bleibt die Verknüpfung von Paratext und Text zunächst unerhellt. Auf die Ambientierung (Hotelzimmer) folgt unverbunden eine sich an unser Denken wendende Behauptung, welche der Philosoph – der Steinherr von seiner akademischen Ausbildung her ist und auf Lebenszeit geistig bleiben zu wollen erklärte – mit dem Fachterminus ‚performativer Widerspruch‘ belegen würde. Denn warum sollte jemand Poesie abzufassen sich unterfangen und ein Gedicht beginnen, wenn er für wahr hält, dass sie Irrtum ist?
Und dieses Behaupten wird derart volltönend-apodiktisch und ohne Ironiesignale gesetzt, dass wir bis nach dem Ende unserer Lektüre und ein gutes Stück darüber hinaus an Reaktions- und Reflexionszeit brauchen, bis wir uns des gesamten, gerüttelten Maßes intellektueller Versatilität und virtuoser Ambivalenzen-Nutzung (oder – ein wenig respektloser gesagt – ‚ausgepicht vexierlustiger Schlitzohrigkeit‘) innewerden, mit dem uns eben dieser Behauptungsgestus in die Irre oder den Irrtum führt…
Vorher aber – und eben zu diesem Zweck – lässt uns die nächste Gruppe von fünf Versen den Sog des Imaginierens schlittern. Wiederum unverbunden angeschlossen entfalten sie eine phänomenologisch prägnante Szenenschilderung, die sich nun unmittelbar an unsere Vorstellungskraft wendet und, wie Ihre eigene Rezeption aufs Schlüssigste belegt, den Leser jene sehnsuchts-motivierte Tastbewegung nachfühlen lässt: „eine Hand die /… /… / nach einer / anderen Hand“. Diese Suche hinwiederum wird in den letzten drei Versen als zum Scheitern verurteilt gekennzeichnet, wenn nämlich wiederum ein Gedanke (ob er in demjenigen aufdämmert, der sich dort auf dem Kopfkissen dem wachen Bewusstsein zukämpft, oder ob ihn der Gedichtsprecher äußert, kann und darf hier dahingestellt bleiben) als Gedichtausklang einen ganzen Ozean zwischen das imaginierte Suchen und sein Sehnsuchtsobjekt legt. Mit dieser Pointe findet das Gedicht einerseits zu der Sphäre des Denkens – wie v.a. in den ersten beiden Versen aufgerufen – zurück und eluzidiert andererseits retrospektiv die Titelgebung, indem es uns jene Erwachens-Szene als in einem Hotelzimmer statthabende begreifen lässt….
Das Entscheidende freilich ist zu diesem Zeitpunkt bereits geschehen. Oder anders gesagt: Die Schlusswendung kann das alles verändernde Wunder nicht ungeschehen machen, das sich in und mit den voraufliegenden fünf Zentralversen bereits irreversibel ereignet hat. Da nämlich jener Mittelteil allein mittels der imaginationsauslösenden Sprache, in dem Ringschluss der Wortwiederholung, tatsächlich von der einen Hand zu der gesuchten anderen Hand führt. So ruft er uns das Finden (mag auch das Verb es in der Schwebe lassen) als Antizipation bereits ins Ohr bzw. in die visualisierende Vorstellung – und diese kann nun einmal etwas, das sie einmal vergegenwärtigt hat, einzig logisch, aber eben nicht imaginativ nichten oder tilgen (vgl. das hier einschlägige Gernhardtsche „Trüffelschwein“). Eben von diesem Hintergrund wirken die letzten drei Verse – die das solcherart ‚vor-gespürte‘ Finden anschließend negieren und mit dem anderen Bild des Ozeans die beiden Hände gleichsam über seine Weite hinweg brutal ‚auseinander reißen‘ – so eindrücklich quälend!
Rationalisieren wir nun die herbe Wirkung dieser Pointe weiter, erkennen wir, warum wir das Fündig-Werden so bereitwillig antizipierten: weil wir es wünschten, weil wir uns mit dem Schlaftrunkenen identifizierten – und ihm aufgrund unserer eigenen Lebenserfahrung oder Vorstellungsvermögen ein Gelingen seiner Suche zuhofften. Eben im Akt dieser Identifikation aber sichern wir das Gelingen des Textes als Gedicht (v.a. die bedrückende Wirkung seines Schlusses) – und erweisen hierin auch, dass die Eingangs-Behauptung, Poesie sei Irrtum, als ganze eben ein solcher ist.
Wäre es je legitim, ein Gedicht auf seine abstrakte Botschaft ‚herunterzubrechen’, hätte sie in diesem Falle wohl zu lauten: „Poesie ist ein – der dichterischen Sprache in Wechselwirkung mit unseren Vorstellungskräften sich verdankendes – Gelingen, das gerade aus und in einem (Gedanken-)Wissen um sein Scheitern erwächst.“* Und all dies, was mir zu seiner erhellenden Nach-Rationalisierung ein ganzes mühsalvolles Schreiben abnötigte, findet sich bei Steinherr – in 24 Worten. Nein, kein Irrtum! Poesie.
Davor zurücktretend, versage ich mir nun, noch einem weiteren Ihrer spannenden Gedanken nachzugehen: inwiefern nämlich in der Tat aus diesem Gedicht auch viele Charakterzüge des Magnetismus und der Intensität von Steinherrs Liebesdichtung erschlossen werden könnten… Gestatten möchte ich mir dagegen, da Sie auch seinen jüngsten Band „Ganz Ohr“ erwähnten, eine winzige Konjektur. Jenes Buch bildet m.E. u.a. insofern einen markanten Innovationsschritt im Oeuvre jenes Dichters, als er darin in neuer Weise der Gedanken- oder Imaginations-Synthese vertraut, die – Einzelworte und Kola überspannend – im Leserbewusstsein statthat. Konkret-formal manifestiert sich dies darin, dass er – in seiner je und je subtil die Prosodie vorzeichnenden Vers-Segmentierung – weiter ausschwingende Atem- und Sinn-Bögen erobert und erbaut. Es wäre nun ein müßiges Gedankenspiel zu fragen, ob er einen Text wie jenen von 2003 dieser Jahre noch geschrieben haben würde (die thematisch-inhaltlichen Innovationen des jüngsten Bandes lassen das durchaus als fraglich erscheinen). Für sehr wahrscheinlich dagegen halte ich, dass jener Text – wäre er dem Autor denn zeitnäher entstanden – in seiner Versaufteilung, v.a. des ersten und dritten Teils, anders aussähe und so seine Wirkung möglicherweise in noch souveränerem Umgang mit der psychologischen Prozessierung von Leserseite verwirklichte:
Poesie ist Irrtum –
[…]
(Die Transformation der letzten Verse bleibe der Phantasie oder dem Ohr des Lesers anheim gestellt… Welches freudvoll ‚re-aktive‘ Konjektürchen freilich der Dichter Steinherr selbst entweder – da es sich ja allein der Befeuerung durch seinen Text verdankt – nachsichtig als Illtum zu belächeln oder aber ‚gar nicht erst zu ignorieren‘ gebeten werden müsste…)
Nun danke ich vor allem Ihnen, werter Herr Chrysostomos, noch einmal sehr für die eminente Anregung Ihrer „Spätjahressonntagsgedanken“ und bitte Sie, es als Verbeugung zu visualisieren, wenn ich mich Ihrem Schlusswort anschließe: Es ist wahrhaft allerhöchste Zeit und intellektuell faszinationsfähiger Leserschaft sehr zu wünschen, dass die Anmahnungen, Steinherrs Lyrik endlich breiter, achtsamer und eingehender wahrzunehmen, progressiv durch die Realität überholt würden! Sein Oeuvre verdient es.
Mit bestem, hochachtungsvollem Dank für Ihre Aufmerksamkeit,
Dr. Johann Eichhorn
* Freilich wird man klüglich der Versuchung widerstehen, dies als eine allgemeine Charakterisierung von Dichtung ansehen zu wollen. Denn damit begäbe man sich wiederum auf die Ebene der Hybris, auf der auch die Eingangs-Behauptung des Gedichtes sich situiert.
Auch den Umkehrschluss zu der genannten These zu erwägen ist übrigens durchaus reizvoll: Ob es (oder dass es?) zu einem Scheitern der Poesie führt, wenn diese sich ihres Gelingens – als vorausplanbare Manipulation des Lesers – allzu gewiss zu sein wagt…