Bamberger Soziologen veröffentlichen neue Analyse
In den letzten Jahren ist in Deutschland immer wieder die mangelnde Ausbildungsreife von Jugendlichen beklagt worden. Nach der PISA-Studie sollen 20 Prozent der deutschen Jugendlichen eine so geringe Lesefähigkeit vorweisen, dass sie nicht in eine berufliche Ausbildung integriert werden können. In der Tat zeigt die deutsche Ausbildungsstatistik, dass heute ein Großteil der schulisch schwachen Jugendlichen keine Lehrstelle findet.
Die Bamberger Soziologen Prof. Dr. Hans-Peter Blossfeld und Prof. Dr. Sandra Buchholz, Lehrstuhl für Soziologie I, konnten nun in einer neuen Längsschnittstudie „Sind leistungsschwache Jugendliche tatsächlich nicht ausbildungsfähig?“ in Zusammenarbeit mit Forschern der Universität Basel zeigen, dass Jugendliche mit geringen Lesekompetenzen sehr wohl ausbildungsfähig sind – und zwar im Nachbarland Schweiz. Dort schafft der Großteil der nach der PISA-Studie kompetenzschwachen Jugendlichen den erfolgreichen Übergang in eine berufliche Ausbildung und deren Abschluss. „Uns hat interessiert, warum es der Schweiz gelingt und Deutschland nicht“, so die Bamberger Soziologen.
Die Schweiz sei ein spannender Vergleichsfall, da die beiden Länder sich in vielen Aspekten ähneln, erklären Blossfeld und Buchholz. „Das Schul- und Ausbildungssystem ist vergleichbar. Auch schneidet die Schweiz bei den Lesekompetenzen in PISA ähnlich schlecht ab wie Deutschland.“ In der Schweiz nimmt jedoch der Großteil der kompetenzschwachen Jugendlichen direkt nach dem Ende der Schulpflicht eine berufliche Ausbildung auf. Und die wenigen Jugendlichen, die den Übergang in eine berufliche Ausbildung nicht schon im ersten Anlauf schaffen, fangen spätestens im zweiten Jahr nach dem Schulabschluss eine berufliche Ausbildung an. Wie die empirische Studie von Blossfeld und Buchholz zeigt, ist der Erfolg der Schweiz zum Teil damit zu erklären, dass dort die Ausbildungs- und Arbeitsmarktlage günstiger ist. „Dieses Ergebnis zeigt, dass geringe Kompetenzen kein absolutes sondern ein relatives Ausschlusskriterium am Ausbildungsmarkt sind“, betonen die beiden Bamberger Forscher. Überspitzt formuliert: In Deutschland kann man es sich derzeit offensichtlich noch leisten, auf kompetenzschwache Jugendliche zu verzichten, weil genügend Arbeitskräfte verfügbar sind. Insbesondere mit Blick auf den anstehenden Fachkräftemangel im Zuge der demografischen Alterung in Deutschland ist diese Strategie jedoch mit hohen gesellschaftlichen Kosten verbunden.
Neben der besseren Arbeitsmarktlage zeigt die Studie der Bamberger Forscher, dass sich auch die große Anzahl kleinerer Ausbildungsbetriebe in der Schweiz positiv auf die Chancen kompetenzschwacher Jugendlicher auswirkt. Anders als in Deutschland sind in der Schweiz Mikro- und Kleinbetriebe viel stärker am Ausbildungsmarkt beteiligt. In Deutschland sind dagegen Großbetriebe viel stärker präsent. „In Mikro- und Kleinbetrieben ist man weniger selektiv und achtet bei der Auswahl von Bewerbern weniger stark auf Zeugnisse und formale Bildungsabschlüsse“, erläutern Blossfeld und Buchholz ihre Ergebnisse Für leistungsschwache Jugendliche werde damit die Hürde gesenkt. Wichtig sei außerdem, leistungsschwache Jugendliche in der Schule nicht zu demoralisieren, sondern sie vielmehr zu ermutigen, ihren Beitrag zu leisten.
Die detaillierten Ergebnisse der Studie der Bamberger und Baseler Forscher wurden nun unter dem Titel „Sind leistungsschwache Jugendliche tatsächlich nicht ausbildungsfähig?“ in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (KZfSS) veröffentlicht und stehen online zur Verfügung unter: link.springer.com/article/10.1007%2Fs11577-012-0186-1