Criticus
Die meisten Menschen haben ein Kitsch-Bedürfnis, weil das Leben ihren Glücksbedarf nur suboptimal abdeckt. Da kommt ihnen der Kitsch bestens zupass, der in seinen vielen Spielarten vom Niedlichen, Gemütlichen, Sentimentalen, Religiösen, Poetischen, Naturkitschigen, Heimatlichen bis zum Mondänen, Erotischen, Patriotischen, Monumentalen und Gruseligen nach einer richtigen Einsicht von Karl Kraus eine „Mission sozialer Beglückung“ erfüllt, indem er ihnen leicht konsumierbare Gefühlsverstärker serviert.
Hier scheiden sich nun die Geister: Manche verputzen diese Häppchen mit munterem Appetit, andere sagen säuerlich „Nein, danke!“, weil sie sich der Lehre ihrer pädagogischen Instanzen erinnern, wonach Kitsch verlogen, dümmlich und spießig sei. Gerade in diesen aufgeklärten Kreisen ist aber die soziale Übereinkunft verbreitet, den „musikalischen Idiotenpreis“ (so kürzlich der Kabarettist Werner Schneyder bei Sandra Maischberger) und das Brimborium um ihn herum als „Kult“ zu titulieren und damit aus dem Kitsch-Kontext herauszulösen. Obwohl es nachvollziehbar ist, dass Menschen, die ihr natürliches Kitschbedürfnis in der Regel unterdrücken, ein Ventil wie den ESC (der die meisten Spielarten des Kitschigen in einer monumentalen Orgie integriert) zur gelegentlichen Erleichterung benötigen, finde ich es verlogen, diese eigene Regression in die Welt falschen Scheins als Kult zu exkulpieren, zugleich aber angesichts röhrender Hirsche, Gartenzwerge oder gehäkelter Klorollen-Hüte die ästhetische Nase zu rümpfen.
Dabei wird arrogant verkannt, dass liebevoll arrangierte Gartenkeramik oder farblich geschmackvolle Wollauswahl tatsächlich individuelle Persönlichkeit und humane Substanz ausdrücken und auch erkennen lassen, so man nur genau hinsieht. Genau diese Qualitäten gehen aber von der Stange gekauften neonkalten Monumentalinszenierungen à la ESC völlig ab. Deren gruseliges Erscheinungsbild verweist gerade nicht auf rührende Glücksansprüche individueller Menschen, sondern auf jenes mafiöse Kartell (und die es entlarvende Ästhetik) von Medienindustrie und Politoligarchie, das sie für die eigenen kommerziellen und machtpolitischen Ziele gebraucht.