Walpurgisnacht

Maiglöckchen in Töpfen, der Waldmeister in bauchiger Schale, herausragend, voll und weiß blühend, duftend im Vergehen. Dazwischen, gepflanzt, Geranien die ihre feuerwehrroten Köpfen stolz und hoch erhoben. Eher schamhaft verborgen blühten einige Veilchen in einem niedrigen Kübel. Pflanzerde „Die Feinste“ stand versackt am hölzernen Balkongeländer. Eine Blumenampel, bestückt mit Petunien, schwankte. Unter dieser lag eine junge, durchaus attraktive Frau. Ein Besen lag drei Stockwerke tiefer auf dem Rasen des Herrn Schmidt. Schmidt mit dt – wie Damentoilette. Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass besagter Rasen erklärter Kampfplatz war. Die Gegner: Herr Schmidt und Friedolin Grabowitz. So hatte ich den Maulwurf genannt. Doch zurück zu der Dame auf meinem Balkon. Sie lag auf dem Rücken, wie ein Käfer die Beine, hübsche Beine – ihr knallbunter Rock war verrutscht –, also die Beine lagen auf den Balkonstühlen. Das heißt der rechte lag auf dem Balkonstuhl zu ihrer Rechten, der linke unter dem Balkonstuhl zu ihrer Linken und sie stöhnte, die Frau, und rollte immer wieder die Augen. Ein unnatürliches Rollen. Ihre Arme, einer links in den Maiglöckchen, meinen Maiglöckchen, der andere rechts im Waldmeister, meinem Waldmeister! Als ich an diesen Abend also auf den Balkon trat, meinen Balkon, traute ich zunächst meinen Augen nicht. Ich dachte, das sei wieder ein makaberer Scherz der Studenten aus der Wohnung über mir. Die Hanfzucht auf deren Balkon, war jedoch keineswegs so ertragreich, dass ein derartiger Absturz damit zu erklären wäre. Zunächst verärgert wegen abgebrochener Maiglöckchen und dem zerzausten Waldmeister besann ich mich schließlich und fragte die Person nach ihrem Befinden. „Mein Besen!“, stöhnte sie nur. „Besen?“, echote ich ungläubig. In den zwei Jahren, seit die Studenten-WG über mir in die Wohnung eingezogen war, hatte ich nie! Wirklich Nie! jemanden mit Besen oder ähnlichem für die Hausarbeit notwendigem Gerät hantieren sehen. „Sind sie nicht aus der Wohnung?“, fragte ich und deutete mit der Hand nach oben. Mühsam schüttelte die Person den mit einer Fülle roter Locken umwölkten hübschen Kopf. „Höher!“, stöhnte sie. Jetzt kniete ich mich doch an ihre Seite und griff nach ihrer Hand. „Haben Sie sich etwas gebrochen?“, wollte ich wissen. „Ich glaube es nicht!“, bekam ich zur Antwort. Ich bot mein Hilfe an um sie aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Mühsam, doch mit vereinten Kräften gelang es und schließlich saß sie in dem bequemen Korbsessel in einer Ecke meines Balkons. „Geht es?“ und eine kurze Entschuldigung murmelnd eilte ich davon. Das Glas Wasser, das ich ihr kurz darauf reichte, lehnte sie allerdings ab. „Tee, Engelwurz und Arnika!“, hauchte sie noch reichlich erschöpft. Und ob sie hier nicht bei Ludowika sei, wollte sie wissen. Ich überlegte. Im ganzen Haus gab es niemanden mit diesem Namen. „Warten Sie!“, befahl ich entschlossen. Im Küchenschrank befand sich eine Flasche Whiskey. Ich schenkte ein Glas ein und reichte es der Person. Sie runzelte die Stirn. „Engelwurz in Alkohol!“, behauptete ich. „Altes Rezept meiner Großmutter!“ Sie trank. Hustete. Rollte die Augen, kniff sie zu, rang nach Luft und verlangte mehr von dieser Medizin.

Es wurde ein sehr lustiger Abend. Melissa-Melinda-Evelinde hieß sie. Wir lachten. Wir prosteten uns zu. Und dann erinnerte sie sich langsam. Sie sei geflogen. „Der blöde Habicht …“ Diese Erinnerungen schrieb ich eher dem Alkohol zu und amüsierte mich köstlich. Später, sehr viel später wollte sie doch noch nach Hause fliegen. Ich holte auf ihren Wunsch den Besen aus dem Garten. Immer noch an einen Scherz glaubend. Als sie dann wenig elegant aufstieg, ihr rechtes Knie war verschrammt, die linke Wade blutig zerkratzt und der linke Oberschenkel hatte sich an der Außenseite gefährlich dunkelviolett verfärbt, lächelte sie mir noch einmal zu und hob ab. Mit offenem Mund blickte ich ihr hinterher. Sie stieg in den sternenklaren Nachthimmel und wurde immer kleiner, bis sie ganz meinen Augen entschwunden war. Jetzt starrte ich auf die leere Whiskeyflasche. Kurzentschlossen ging ich und holte meinen Besen aus der Kammer.

Muss ich erwähnen, dass ich diese Nacht in der Notaufnahme des örtlichen Krankenhauses mit verstauchter Schulter und gebrochenem Knöchel verbrachte? Oder hatte Sie gedacht, ich könnte
hexen?

© Cornelia Stößel, 2021 / April

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