Intensive Nähe im Seelensturm

Mit Roman Payer in der Titelrolle wird Benjamin Brittens Peter Grimes in Coburg zum Saisonhöhepunkt

Monika Beer
Ensembleszene mit Roman Payer als Peter Grimes (ganz rechts) Foto: Sebastian Buff
Ensembleszene mit Roman Payer als Peter Grimes (ganz rechts) Foto: Sebastian Buff

Was macht man in heutigen MeToo-Zeiten mit einer Oper, in der zwei kleine Jungen auf ungeklärte Weise zu Tode kommen und bei der seit ihrer Uraufführung 1945 im Subtext stets die Homosexualität des Komponisten Benjamin Britten und die womöglich pädophile Neigung ihres Titelhelden Peter Grimes eine Rolle spielt? Die Neuinszenierung des Landestheaters Coburg gibt auf diese Frage eine restlos überzeugende, sehr bewegende Antwort, indem Regisseur Alexander Charim ihr nicht ausweicht, sondern sie aufgreift und mit der ihm zustehenden Interpretationsfreiheit umsetzt: John, der stumme Lehrling des Fischers, ist hier kein Kind mehr. Sondern ein im Waisenhaus aufgewachsener und schon dort gequälter Jugendlicher, der erwachsen genug ist, über seine Sexualität selbst zu entscheiden. Es geht zwar auch um Schuld und Sühne, aber im Kontext einer herzzerreißenden Liebesgeschichte.

Die Geschichte des durch die bigotte Dorfgemeinschaft am Meer von vornherein als Außenseiter abgestempelten Peter Grimes wird bildnerisch konsequent ausgeführt: Im Parkett des Landestheaters schwebt wie eine Insel ein karges Wohngeviert mit Bettzeug (Bühne: Ivan Bazak), in das sich der Titelheld wirft, bevor die Oper beginnt. Dank der gegebenen Nähe offenbaren sich den Zuschauern an diesem Rückzugsort schon eingangs die Selbstzweifel und Selbstvorwürfe des Protagonisten in seinem himmelblauen Hemd intensiver als sonst. Mehr noch sitzen und stehen in den Parkettreihen und in den Rängen heutig gekleidete Solisten und Choristen (Kostüme: Aurel Lenfert), die eingangs erstens klar machen, wie schnell und warum Ausgrenzung entsteht und zweitens signalisieren, dass keiner, auch die Zuschauer selbst, nicht davor gefeit sind, sich einen Sündenbock zu suchen.

Das meiste Geschehen spielt vor einem grauen Rundhorizonthimmel auf der Drehbühne, wo ein paar abstrakte Bauten die verschiedenen Spielräume nur andeuten. Hier agieren vierzehn Solisten, Statisterie, Chor und Extrachor des Landestheaters sowie einige Instrumentalisten, während das Philharmonische Orchester unter Generalmusikdirektor Roland Kluttig aus dem Graben heraus quasi die Rolle des Meers übernimmt. Weil die Stürme, die in dieser Oper toben, nicht nur Naturgewalten, sondern auch Seelenstürme sind, setzt Regisseur Alexander Charim auf eine ausgefeilte Personenführung. Er bringt das Kunststück fertig, die Figuren so plastisch und hautnah wie möglich zu präsentieren und gleichzeitig an den richtigen Stellen auch zu abstrahieren. Vor allem in den großen Chorszenen wird greifbar, was für eine explosive Mischung Angst, Argwohn und Aggressivität in einem Kollektiv sind.

Fast alle Figuren sind negativ gezeichnet, allen voran zunächst auch Peter Grimes, der ähnlich wie Alban Bergs Wozzeck wie ein Geprügelter, aber cholerisch durch die Gegend läuft und sich so oft kratzt, dass dahinter eine schreckliche Kindheit und ein Borderlinesyndrom stecken könnte. Die Dorfgemeinschaft, die ihn verstößt, ist überwiegend selber prekär, ob es sich nun um die Honoratioren oder ums Fußvolk handelt. Nur Lehrerin Ellen Orford und mit ein paar Abstrichen auch Ex-Kapitän Balstrode sind aufrechte und empathische Menschen, die in Peter Grimes jene gequälte Natur erkennen, die mitnichten den Himmel zurückbiegen und von vorn beginnen kann.

Wie vergeblich die Liebe Ellens ist – nicht umsonst verweist der Regisseur darauf, dass es zwischen Peter und ihr keine musikalische Erotik gibt –, wird unmittelbar klar, sobald der Schauspieler Thomas Kaschel in der stummen Rolle des Lehrlings John auf den Plan tritt. Zu ihm fühlt sich Peter sofort angst- und lustvoll hingezogen, in ihm erkennt er einen liebenswerten Leidgenossen, ein Spiegelbild seiner selbst. Die behutsam inszenierte Liebesszene ist ein Theatercoup, der in ein doppelt bitteres Ende mündet.

Was auch deshalb so bewegend rüberkommt, weil mit dem früheren Ensemblemitglied und mehrfach schon in großen Partien bewährten Gastsänger Roman Payer für die Titelpartie ein Tenor zur Verfügung steht, der keinerlei Wünsche offen lässt. Der aus Wien stammende Sängerdarsteller gestaltet den musikalisch mit einigen Klippen ausgestatteten Peter Grimes gekonnt, glaubhaft und mit einer Intensität, die unmittelbar unter die Haut geht. Ein großartiges Rollendebüt! Als neue Ensemblemitglieder lassen vor allem Olga Shurshina als Ellen Orford und Peter Aisher als Bob Boles aufhorchen, bei der besuchten zweiten Vorstellung wurden auch alle weiteren Solisten, die von Mikko Sidoroff einstudierten Chöre und das Orchester unter Roland Kluttig ausgiebig gefeiert.

Ohne die gezielte und kontinuierliche Aufbauarbeit, die der GMD am Landestheater seit der Spielzeit 2010/11 geleistet hat, wäre diese Produktion, bei der vor allem die Bläser brillieren und faszinierende Raumklangeffekte geboten werden, kaum denkbar. Peter Grimes ist ein erster Höhepunkt des aktuellen englischen Schwerpunkts am Landestheater, wo man aus gutem Grund die 200. Geburtstage von Queen Victoria und ihrem aus Coburg stammenden Prinzgemahl Albert feiert. Der zweite Höhepunkt dürfte am 25. Mai das erste Gastspiel des Coburger Orchesters mit der Royal Choral Society in der Londoner Cadogan Hall sein, auf das im Juli der Gegenbesuch des Londoner Chors in Coburg folgt.

Termine und Karten

Weitere Aufführungen am 7. und 13. Februar, am 1., 13. und 24. März, 4. und 9. April sowie am 13. April als Gastspiel in Fürth.

Ticket-Hotline für Coburg 09561-898989

weitere Infos unter https://www.landestheater-coburg.de/