Werner Schwarzanger
Jean Ziegler: Ändere die Welt!
Warum wir die kannibalistische Weltordnung stürzen müssen. Bertelsmann Verlag 2015
Seit dem Kollaps der Sowjetunion taucht aus der Verabsolutierung der über Staat und Recht verfügenden Marktmacht ein irres Monster in der Weltgeschichte auf: die neoliberal-plutokratisch-imperialistische Finanzoligarchie. Und dieses Monster, sagt Jean Ziegler, der Vizepräsident des beratenden Ausschusses des UNO-Menschenrechtsrats, in seinem neuen Buch, schnürt uns langsam aber sicher die Luft ab. Höchste Zeit also, dass wir diesem finanzoligarchischen Über-Ich des Generalangriffs auf das natürlich Gegebene der Erde, das tabulos alles inclusive Mensch verwerten und verwaren und den verdinglichten Menschen auf seine ökonomischen Funktionen reduzieren will, auf die Schliche kommen. Seine sophistlische Paranoia gründet im Dogma von den angeblichen Naturgesetzen der Wirtschaft. Als Naturkraft, versichert dies Dogma, befolgen wir die Wirtschaftszwänge ja sowieso. Überließe man also die Flüsse von Kapital, Waren und Dienstleistungen gleich der unfehlbaren unsichtbaren Hand der per se profitmaximierenden Wirtschaftsnaturgesetze, erzeugte schließlich die stateless global governance des Marktes den weltweiten Wohlstand für alle. Denn dank des trickle down effects fiele dann auch immer genug für die Armen ab. Das Problem dabei ist für die Raubtiere des Kapitals lediglich der bisherige Staat, der die soziale Grundsicherung wider alle Wirtschaftsnaturgesetze notfalls auch gratis garantiert. Sie dagegen wollen den der Finanzoligarchie ergebenen failed state, den sie in Privatisierungwellen – Strom-und-Wasser-Versorgung, Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, Gefängnisse, Polizei usw. – auf Steigbügelhaltung reduzieren wollen. Und damit die per TTIP bald jeder staatlichen Kontrolle entzogenen staatskontrollierenden Globale Players sich machtmästen wie nie ein Despot zuvor, hat der „Washingtoner Konsens“ das globale Gewinnspielfinale eröffnet.
Jetzt soll sich die steile kapitalistische Lemniskate endgültig verabsolutieren. Während über eine Milliarde Menschen im Stich gelassen vor sich hinverhungert, obwohl die irdische Landwirtschaft 12 Milliarden Menschen ernähren k ö n n t e, setzt der überausbeuterisch sich selbstregulierende Weltmarkt an, den Hemmschuh des sozialen Rechtsstaates abzustreifen, damit das Milliardären-Pünktchen: das alles aufsaugende plutokratische Schwarze Loch, unter dem sich die globale Verelendungsblase bläht, schier allmächtig werde. Unter dem Kategorischen Imperativ der Anpassung an die Standortsicherung zerfällt die aus der Französischen Revolution ererbte Republik, die die inhumane Logik des Kapitals hemmt und verkörpert zugleich, vollends zum finanzoligarchischen Schatten ihrer selbst, der pro forma, als ob nichts geschehen wäre, „Demokratie“ weiterspielen darf. Ohne das grundrechtliche Bollwerk des Sozialstaates aber sind alle irgend Schwachen der kapitalistischen Resteverwertung ausgeliefert.
Und wir? Lieber verdrängen wir uns selbst und surfen in diesem erbarmungslosen hinterhältigen Ausbeutsystem unseren digital vermarkteten Präferenzen hinterher, als dass wir dem neoliberalen Irrsinn, der die so mühsam errungenen Menschenrechte zerschlägt, die Stirne bieten. So jedenfalls scheint es. Doch während das europäische Bürgertum allmählich verschwindet, reift abseits der geköderten Däumlinge, die sich unverbindlichst immer wieder neuerfinden sollen, tief unbewusst Sehnsucht heran, diese absurde kapitalistisch-kannibalistische Lemniskate zu brechen für den Füreinanderbund a l l e r Menschen. Die dieser noch dunklen Sehnsucht folgen, nennt Jean Ziegler die „Bruderschaft der Nacht“. Mit dieser dem Kategorischen Imperativ der Solidarität und freien Entfaltung jedes Einzelnen verpflichteten Bruderschaft sieht er die Morgenröte eines neuen Welttages heraufdämmern, der in einer kaum schon andeutbaren planetarischen Bewusstwerdung der eigentlichen Menschenweise die große Kommune verwirklichen wird, die das ausbeuterische Gefälle auf Erden einfürallemal hinter sich bringt. Ihre Solidarität wäre komplementär durch eines jeden freie Entfaltung bedingt.
Doch nicht die Revolution führt hier zum Ziel. Revolutionen brechen die Maschine nicht. Nach Marx ist klar, dass alle Umwälzungen sie nur vervollkommneten. Es kommt aber darauf an, sie zu stoppen. Daher bahnt sich in der „Bruderschaft der Nacht“ nicht mehr wie gehabt der Wille zum Umsturz Bahn, sondern der nachhaltige Traum von der generellen Verwindung jedweder Form von Macht von Menschen über Menschen. In der aus der Résistance hervorgegangenen „regenerativen Soziologie“ mit Autoren wie Bastide, Balandier, Duvignaud, Durand sieht Ziegler diesen Traum im Ansatz schon formuliert. Dort nämlich hat man erkannt: „Jede soziale Organisation – jede Eigentumsordnung … jede Produktionsweise“ ist so gut wie sie den Menschen zu seiner menschlichen Autonomie befreit – und so schlecht wie sie ihn ausbeuterisch instrumentalisiert. In dieser Sicht ist etwa die afrikanische Diaspora in Brasilien, wo man durch Trance-Rituale wie den candomblé der Nagos eine oft heftige, aber nie gewalttätige, vielmehr wundersam klärende Katharsis ihrer Konflikte zu bewirken weiß, eindeutig längst zivilisierter als wir.
Jean Ziegler: Ändere die Welt!
Warum wir die kannibalistische Weltordnung stürzen müssen.
Bertelsmann Verlag 2015
19,99 €