Metropolregion Nürnberg
Die Ästhetik der Entschleunigung
Nicht viel mehr als ein Gefäß, eine Kiste mit einem kleinen Loch sowie viel Licht und Zeit braucht Günter Derleth, um eindrucksvolle Fotografien zu machen – der Fürther Künstler hat sich der Camera Obscura verschrieben, einer der ursprünglichsten Techniken der Fotografie, deren Namen aus dem Lateinischen kommt und nichts anderes als „dunkle Kammer“ bedeutet. Das Prinzip dieser Lochkamera erkannte bereits Aristoteles im 4. Jahrhundert vor Christus – damals allerdings noch ohne das lichtempfindliche Papier, das das Bild, welches im Inneren der dunklen Kammer auf dem Kopf stehend erscheint, erst dauerhaft haltbar macht.
Wer aufgrund der alten Technik nur unscharfe Bilder erwartet, wird jedoch überrascht von der erstaunlichen Vielfalt an Schärfen und Unschärfen, an Farben und Strukturen, die man auf den Fotografien Günter Derleths entdecken kann.
Der Künstler wurde 1941 in Nürnberg geboren und machte zunächst eine Ausbildung zum Schriftsetzer, als der er einige Jahre in der Schweiz tätig war. Bereits in dieser Zeit hatte er die ersten Kontakte zur Fotografie, die ihn so faszinierte, dass er in seiner fränkischen Heimat eine Ausbildung zum Fotografen anschloss. 30 Jahre lang führte Günter Derleth sein eigenes Studio für Werbefotografie in Fürth. Bereits seit 1993 arbeitete Derleth intensiv mit der Lochkamera; seit 2001 fotografiert er ausschließlich mit der Camera Obscura. Er ist Mitglied im Bund freischaffender Fotodesigner und in der Deutschen Gesellschaft für Fotografie. Zahlreiche Fotoprojekte und Ausstellungen, Workshops und Aktionen mit der Lochkamera hat der Künstler inzwischen gestaltet und durchgeführt – dafür war Derleth nicht nur in seiner Heimat unterwegs. Seine Reisen mit der Lochkamera führten ihn unter anderem nach Venedig, auf die Ruta de la Plata, die Silberstraße in Spanien und auf den Jakobsweg.
Für den Künstler ist es die Einfachheit der Kamera, die ihn fasziniert, sowie die Tatsache, dass das Fotografieren mit der Lochkamera immer Zeit und Geduld braucht, denn die Belichtungszeiten liegen zwischen zehn Sekunden und mehreren Stunden. Die Kunst zwingt den Künstler dabei zur Langsamkeit und dazu, den Moment sowie das Motiv zu genießen und meditativ zu betrachten – für Derleth ist genau diese Entschleunigung, das Kontemplative in der Arbeit das Wesentliche. Der Schnelligkeit und der Unrast, der Unachtsamkeit bis hin zur Achtlosigkeit, dem Nachbessern und Nachkorrigieren in der Digitalfotografie setzt Derleth das Innehalten und das Zufällige im Augenblick entgegen. Da die Lochkamera keinen Sucher besitzt, kann der Winkel und der Ausschnitt des Motivs nicht genau bestimmt werden – hier ist es die Erfahrung, aber auch das Vertrauen, das aus Derleths fotografischem Blick wundervolle Aufnahmen werden lässt. Die Motive sind dabei zumeist der Natur und der Architektur entnommen; zu sehen sind Lichtstimmungen in Baumwipfeln, menschenleere Plätze und Straßen, die einen fast nostalgischen Charme versprühen, wunderbar farbenfrohe Innen- und Außenräume, Gräser, Pflanzen, aber auch schmucklose Fabrikgebäude und der Flügel eines Vogels – die Ästhetik findet sich im Detail, in den verwischten Konturen, die neben intensiven Farbflächen stehen, in dem Blick, der nicht nur die oberflächlichen Schönheiten der Welt einfängt, sondern die erst im langen Betrachten entstehende Ästhetik eines Motives freilegt.
Die Kamera, Derleths Werkzeug, muss dabei nicht zwingend eine kleine Holzkiste sein. Der Künstler kann fast jeden Raum in eine Kamera verwandeln: Für die Aktion ‚Loch statt Linse‘ fertigte er selbst über 2000 Pappschachtelkameras, die während einer Ausstellungen an Besucher verteilt wurden, verbunden mit der Bitte, ein Bild zu machen und die ‚Kamera‘ an den Künstler zurückzusenden. Für das Projekt ‚Türme‘ hat Derleth die Stadtmauertürme Nürnbergs und des Rathausturmes in Fürth zu begehbaren Lochkameras umgebaut; daraus entstanden Panorama-Fotos im Originalformat von bis zu 7.50 m Breite, von denen eines bis zum November 2014 im Nürnberger Museum für Industriekultur im Rahmen der von Derleth kuratierten Ausstellung „Ein Gramm Licht“ zu sehen war.
Dass Günter Derleth den Titel und die Auszeichnung als Künstler des Monats der Europäischen Metropolregion mehr als verdient hat, darüber herrschte in der Jury des Forum Kultur Einigkeit. Der Künstler erhält in seinen Fotografien nicht nur einige der schönsten Augenblicke und Motive auf der ganzen Welt, er schließt zugleich in den Fotos die Langsamkeit, das Innehalten und die Achtsamkeit ein – Phänomene, die unsere hektische Welt stiller, die den Atem langsamer und den Blick des Betrachters ruhiger werden lassen. Dabei bewahrt er mit seiner Arbeit eine der ursprünglichsten Techniken der Fotografie, die vielleicht ohne Künstler wie Derleth längst in Vergessenheit geraten, und ohne die so wunderbare Panoramaaufnahmen – wie jüngst in Nürnberg zu sehen – der Städte der Metropolregion gar nicht möglich wären.