Peter von Liebenau
Ich muss zugeben: Ich habe eine Affäre. Allerdings anderer Art, als Sie vielleicht denken. Ich habe eine Affäre mit Bamberg, meiner Stadt. Ich liebe sie. Und zwar stürmisch. In dieser Form darf das aber niemand wissen. Die würden mich ja für blöd halten, so wie ich mich manchmal – wenn auch heimlich – mit ihr benehme, wie ich mit ihr rede, wie ich sie mit meinen Blicken – und nicht nur mit denen! – liebkose … Die würden mich zum Psychiater schicken, ehrlich. Manchmal streichele ich meine Liebste im Hain, drück mich dagegen, möchte direkt in sie reinkriechen, in diese liebe, alte Eiche, und ich glaube, neulich hat mich schon eine Joggerin dabei gesehen, wie ich ihr Moos geküsst hab, sie hat zwar gelächelt, aber ich hab das sofort beendet und bin weggerannt. Man steht ja in der Öffentlichkeit. Das kann ich mir nicht leisten.
Ich gehe durch die Stadt, manchmal streiche mit den Fingerspitzen über eine historische, hölzerne Türe, die Rahmen, die schwungvoll geschmiedeten Klinken, die Türklopfer, ein liebevoll gestaltetes rundes Knaufgesicht, ich trete in einen poetischen Domherrenhof und ergehe mich darin. Oder ich schlüpfe in den romantischen Innenhof der Pressestelle der Universität, meditiere eine Weile, atme tief und immer tiefer durch, rezitiere Verse von Morgenstern, Ringelnatz und Cyrano de Bergerac, lege mich über den kleinen, ach! so süßen Brunnenrand, dann besteige ich – obwohl ich da gar nichts zu suchen hätte – die Wendeltreppe und beobachte, wie sie sich aus den verschiedensten Blickwinkeln zeigt, welche Einblicke sie bereithält, wie wenn man einer Geliebten beim Ausziehen zusieht … – nein! Nein, das geht so nicht weiter. Ich muss etwas machen. Ich muss zur Affärenberatung.
Wir sind ja urban. Auch wir haben eine Affärenberatung, nicht nur Wien oder Zürich. Bei uns gibt es für alle Lebenslagen eine Beratungsstelle, im Zeitalter von Gutachten und Betreuung, siehe oben. Das Haus mit der Affärenberatung befindet sich in der Langen Straße, hat eine Zweigstelle in der Wunderburg und demnächst im Konversionsgebiet. Ich wähle die Lange Straße. In der Nähe des Hauses befindet sich eine unglaublich urbane Chocolaterie, wo man für seine Affäre das Rendezvous zärtlichst versüßen kann.
Das Haus in der Langen Straße ist im Kern sehr alt, es wurde aber durchgreifend verändert. Das Erdgeschoß ist geprägt von den 1950er Jahren, eine Boutique für Lederwaren bietet hier ihre Wahren feil. Dass sich in diesem Gebäude die Affärenberatung befindet, erkennt man nur an einem kleinen Schild, wie es auch Arztpraxen oder Rechtsanwaltskanzleien anbringen, nur unauffälliger, ganz unauffällig. Der Betrieb beruht auf Mund-zu-Mund-Propaganda. Oder auf Empfehlungen anderer Betreuungseinrichtungen wie Eheberatungen, Singleberatungen, Sexualberatung, Eifersuchtsberatung, Rosenkriegsberatung, Patchworkfamilienberatung oder Männerberatung. Beratungsstellen gibt es nun einmal genug in unserer Gutachter- und Betreuungsgesellschaft. Dass nur ja niemand sich inhaltlich oder gar im weltanschaulichen Rahmen mit sich selbst auseinandersetze! Ob die Beratenen glücklicher geworden sind?
Man kann in die kleine Schaufensterpassage neben der Boutique hineintreten und so tun, als interessiere man sich für Damenhandtaschen. Na gut, bei Herren ist das kein perfektes Alibi, aber es reicht für Ausreden. Wenn ein Mann von einer Bekannten, die ihn zufällig in der Stadt trifft – und das kommt in Bamberg ständig vor, so urban sind wir nun auch wieder nicht, und, abgesehen davon, ich hab schon in Venedig und Rom Bekannte aus Bamberg ganz zufällig getroffen! – wenn man also in der Passage erwischt wird, kann man immer noch sagen, man habe damit gerechnet, im Schaufenster auch Herrensachen zu finden. Oder man wolle einer Frau eine Handtasche schenken. Davon wird dann die Bekannte, weil sie noch nie dergleichen von einem Mann gehört hat, so sehr erbaut sein, dass unter Umständen eine Affäre draus wird – und dann könnten beide gleich ein paar Schritte weitergehen, zur Tür der Affärenberatung.
Wie macht man eine Frau in sich verliebt? Ein weiser Mann sagte einmal, man müsse ihr ein Geheimnis anvertrauen.
Man geht also in der winzigen Passage ein paar Schritte weiter und gelangt zu einer Tür, an der die Bewohner und Einrichtungen des Hauses verzeichnet sind. Hier befindet sich abermals das Schild „Affärenberatung – Dr. Dr. P. v. L., Dipl.-Psych. (University of Gondal and Angria), Barbara S. und Charlotte von Stein, Moderationen, Salons und Affären“.
Darüber befindet sich ein Einsteckschild mit der Aufschrift „Open“. Anscheinend kommt dort das Schildchen „Closed“ rein, wenn die Beratung geschlossen ist; denn es gibt keine regulären Öffnungszeiten. Manche müssen des Nachts dort ganz dringend rein, allein oder als Paar.
Ich schlendere also durch die Lange Straße, grüße hier und da Bekannte, lächle fremde Damen an, diese lächeln zurück (in einer urbanen Stadt sind Flirts immer erlaubt) und bleibe vor dem bewussten Schaufenster stehen. Scheinbar interessehalber gehe ich in die Passage und werfe einen Blick auf das Schild der Affärenberatung. OPEN. Flugs drücke ich die Tür auf und haste in den ersten Stock. Zum Glück ist die Tür der Einrichtung nur leicht aufzudrücken. Eine äußerst ansehnliche junge Frau sitzt hinter einer Theke und lächelt. Nach einer liebevollen Begrüßung mit schwäbischem Akzent überreicht sie mir ein kleines Glas von einem frisch gezapften Bamberger Pils, ein Formular und einen Stift.
„Warum das Pils?“, frage ich etwas verwirrt. „Das beruhigt. Die meisten Patienten kommen sehr aufgeregt und haben Kaffee oder mehrere Espresso getrunken“, antwortet sie professionell, mit diesem netten schwäbischen Singsang in der Tonlage.
Während ihrer letzten Worte kommt eine attraktive, aber völlig aufgelöste Frau aus einer anderen Tür herausgestürzt, wirft sich mir an die Schulter und schüttelt sich in Weinkrämpfen. Völlig überwältigt halte ich sie etwas fest, bis die Dame hinter der Theke hervorkommt, mir die Frau abnimmt und sie zu einer bequemen Sitzecke führt, wo sie sich niederkauert und ihr verweintes Gesicht in den Händen verbirgt.
Erst jetzt sehe ich einen Mann, welcher der Frau aus der Praxis gefolgt war, im Hintergrund unschlüssig herumstehen. Nach einer Weile geht er auf die Schwäbin zu: „Meine Frau versteht mich nicht!“ – „Des isch normal“, erhält er als gleichmütige Antwort.
Ich möge mich in ein Wartezimmer bzw. eine Art Wartekabine begeben. Nach den Ereignissen der letzten Minuten genehmige ich mir das geliebte Bamberger Pils – wesentlicher Teil meiner Bamberg-Affäre – in einem Zug und sehe mir den Raum an. Hell, undurchsichtige Gardinen, die Theatergassen schemenhaft. Gemälde an der Wand, Akte: Repros von Botticelli, Tizian, Rembrandt, Courbet, Renoir, Picasso. Illustrierte mit Titeln wie „Filmstar hat schon wieder eine neue Affäre“.
In die Ausgangstür ist eine Milchglasscheibe eingelegt. Ab und zu Schatten: Innehalten, schnelle Bewegungen, Herumrennen. Dann Geschrei, ein Ringen – dann Scherbenklirren. Irgendeine Scheibe ist zu Bruch gegangen. Eine Frau weint. Ich überlege mir schon, ob ich gehen soll. Plötzlich kommt jemand herein, eine nette Frau, lächelnd, in aller Ruhe. In ihren Augen blitzen zwei Sterne. Ich komm gar nicht davon los. Ihr Mund zuckt. Sie setzt sich neben mich. Nach einer Weile umarmt sie mich einfach, wir küssen uns … „Ich konnte gar nichts dagegen tun“, werde ich mich später einmal rechtfertigen, „sie hat mich verführt!“ – „Das sagen sie alle.“ – „Sie hat mich direkt vergewaltigt!“ – Gelächter.
Viel später, nachdem sie den Raum längst verlassen hat, bestelle ich noch ein paar Pilschen zur Beruhigung und versuche mich auf den Fragebogen zu konzentrieren. Zuerst wird man nach den Personalien gefragt. Dann erfolgt der Hinweis, dass man, wen man eine heimliche Affäre habe, seine Personalien nur im Notfall angeben dürfe. Die Bankverbindung ist allerdings wahrheitsgetreu auszufüllen.
Auf weiteren Seiten des Fragebogens wird gefragt, ob man mit seiner bestehenden Beziehung zusammenbleiben wolle, ob man alles noch einmal so machen würde, ob man davon jemandem erzählt habe, zum Beispiel der besten Freundin, ob man ehrlich zur Affäre sei, ob man etwas ganz Besonderes nur für sich allein haben wolle usw. Ganz am Ende steht ein Satz aus Thomas Manns Erzählung „Tonio Kröger“ zu lesen:
„Er hatte sie tausendmal gesehen; an einem Abend jedoch sah er sie in einer gewissen Beleuchtung, sah, wie sie im Gespräch mit einer Freundin auf eine gewisse übermütige Art lachend den Kopf zur Seite warf, auf eine gewisse Art ihre Hand, eine gar nicht besonders schmale, gar nicht besonders feine Kleinmädchenhand, zum Hinterkopfe führte, wobei der weiße Gazeärmel von ihrem Ellbogen zurückglitt, hörte, wie sie ein Wort, ein gleichgültiges Wort, auf eine gewisse Art betonte, wobei ein warmes Klingen in ihrer Stimme war, und ein Entzücken ergriff sein Herz, weit stärker als jenes, das er früher zuweilen empfunden hatte, wenn er Hans Hansen betrachtete, als er noch ein kleiner, dummer Junge war.“
Eine schrille Sirene reißt mich aus meinen Träumen. Die Tür geht auf und ich werde in die Praxis gebeten. Frau von Stein bittet mich Platz zu nehmen. Sofort solle ich darüber sprechen, was mir beim Lesen des Satzes von Thomas Mann durch den Kopf gegangen sei.
„Ich gehe an einem Sonntagmorgen durch die Hainstraße, Blütenduft liegt im Äther, ein sanfter Westwind treibt mich an und raunt mir aus den schweren Astwerken der uralten Eichen entgegen. Sie haben ihre Rinden über die verrosteten Geländer wachsen lassen und so das Materielle mit dem Organischen vereint. Leichte Wolken fliegen über alles hinweg, der Hollergrabenbach plätschert, die Villengärten leuchten in ersten Blüten, Blättern und Knospen, dort öffnet sich eine Balkontür, eine junge Frau tritt barfuss, im Nachtgewand heraus, der dünne Stoff drückt sich an ihren Körper, ihr langes Haar bedeckt kaum den Ausschnitt, sie lacht, die Glocken heben an, es beginnt dieses wunderwunderschöne Konzert, dieser Impressionismus aus Farben, Lichtern und Klängen, die Idee, die Philosophie und die Wirklichkeit meiner Affäre – mit meiner geliebten Alten Stadt Bamberg! Ich rufe mit Tonio Kröger aus vollstem Herzen: ‚Du meiner Jugend wilder Freund, so sind wir einmal noch vereint!‘“
Frau von Stein lauscht mit leicht geöffneten Lippen. Dann nimmt sie einen Schluck Bier und sagt: „Das war wunderwunderschön. Das können wir fei jederzeit wiederholen. Für Sie kostenlos. Sie haben keine Therapie nötig. Von so einer schönen Affäre können andere nur träumen. Gehen Sie jetzt, hier haben Sie meine Nummer!“
Das lässt man sich nicht zweimal sagen, oder?