Peter von Liebenau
Bamberg ist eine Stadt der Bildung – mit Einrichtungen bis zum höchsten Niveau; denn hier gibt es fast alle Arten von Schulen und Akademien, sogar eine richtige staatliche Universität, die Otto-Friedrich-Universität Bamberg, und – darüber hinaus – ein wissenschaftliches Institut zur Bildungsforschung, nämlich das Nationale Bildungspanel für die Bundesrepublik Deutschland, mit einer endlosen Liste von Mitarbeitern, gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Demnächst wird das Institut an die Leibniz-Gesellschaft angegliedert und ist dann unabhängig von der örtlichen Universität. Es ist so etwas wie ein Max-Planck-Institut, hoch angesehen und dotiert, abgesehen natürlich von den anderen Graduierten-Kollegs, Forschungsstellen und Forschungszentren in unserer nicht zuletzt dadurch urbaner gewordenen Stadt.
Freilich gibt es da noch Steigerungen. Bamberg hat keine Elite-Universität, es ist weder Heidelberg, Oxford oder gar Harvard. Und es gibt keine wissenschaftliche Zeitschrift, die hier publiziert wird, in der Wissenschaftler aus aller Welt einen Beitrag platzieren möchten – was für sie wie eine Eintrittskarte wäre in die höchsten Ränge ihres Faches, sodass sie dann ständig weltweit immer wieder zitiert würden, Rang und Namen hätten und Rufe an bedeutende internationale Universitäten bekämen. Eine solche wissenschaftliche Fachzeitschrift ist zum Beispiel Current Anthropology der University of Chicago Press. Der Editor Mark Aldenderfer (mit Regnitztal-Vorfahren?) ließ sich im Vorwort des Heftes vom April 2013 allerdings gar nicht urban, wie man es annehmen sollte, sondern als Bergwanderer mit Hemd und Rucksack darstellen. Er trug lange, hinten zusammengebundene Haare und ein Bärtchen – wie ein Naturbursche eben. Darin besteht vielleicht Urbanität: Man hat es nicht nötig, sich zwischen Wolkenkratzern fotografieren zu lassen; man figuriert eher als Bergwanderer. Die Umgebung auf dem Foto wirkt wie die Hohe Metze auf der Alb bei Roschlaub. Wer die erklommen hat, wird entweder Naturbursche oder Philosoph – oder beides.
Aldenderfers Zeitschrift ist das Ergebnis ständiger Diskurse der Weltspitze der Anthropologie, Ethnologie, Philosophie, Psychologie und anderer Wissenschaften – was den verbreiteten Anti-Amerikanismus, der vielleicht sowieso überdenkenswert wäre, nicht gerade bestätigt. Ich habe noch nie einen weltweit führenden Intellektuellen gehört, der diesen verträte. Sehr wohl aber solche, die ansonsten in ihren Lebensläufen stolz die Gastprofessur in Princeton oder an der Stanford University anführen.
Gut, in Bamberg gibt es das alles nicht. Immerhin leben hier Bürgerinnen und Bürger, die mit diesen Spitzen-Wissenschaftlern verwandt oder gut bekannt sind und deren Schriften von den genannten Wissenschaftlern zitiert werden. Wir sind und bleiben also einigermaßen urban. Die Wissenschaft ist in Bamberg, zumindest in Einzelpersonen, hochrangig vertreten gewesen und noch vertreten.
Nur ein Problem sei gleich vorweggenommen: Das weiß kaum jemand aus der Bevölkerung. Er weiß höchstens, dass es viele Schulen gibt – manche hält er für überflüssig, die Lehrer für zu hoch bezahlt und faul –, und dass es eine Uni gibt; einstmals gab es sogar Demos dafür. Auf Plakaten stand zu lesen: „Es meint der Hans, es meint die Kuni: Bamberch brauchd a Uni“ – oder so ähnlich. Da erkannte München wohl gleich, dass hier Bildung vonnöten sei. Das war noch zu Zeiten der sogenannten Gesamthochschule Bamberg, an der fast nur Volksschullehrer ausgebildet wurden, zum Teil von Gymnasiallehrern mit Lehrauftrag, die dann später Oberstudiendirektoren wurden und ihre Karrieren dann maximal oder immerhin als Ministerialbeauftragte beendeten – ach!, waren das noch Zeiten …
Die Dozenten der Gesamthochschule saßen in der Feldkirchenstraße in ihren Seminarräumen und qualmten Zigaretten, man war sehr politisiert, und nicht alle brachten den künftigen Lehrerinnen viel bei, aber diese fanden häufig Partner fürs Leben, allerdings weniger im Seminar als in Kneipen, im Pizzini, im Mondschein oder im Pelikan. In manchen Kneipen gab es schon ein richtiges urbanes Studentenleben, so wie in Erlangen oder gar Heidelberg, bei dem die nicht-urbane Landbevölkerung nix zu melden hatte.
Auf dem Land, im Landkreis Bamberg vor allem, gab es ja keine Gymnasien, an denen man das Abitur machen konnte; dort gibt es sie bis heute nicht, bezeichnenderweise. Bauernkinder, die Lehrer oder Pfarrer als intelligent einschätzten, wurden nach langer Überredungskunst, meist gegen den Willen der Eltern, nach Bamberg ins kirchliche Internat geschickt, zum Beispiel ins Ottonianum, ins Marianum, Theresianum oder Aufseesianum, Einrichtungen mit alter, lange noch als ehrwürdig eingeschätzter Tradition, bis der eine oder andere Missbrauchsskandal – aber nicht so richtig – ruchbar und – wohl zu wenig – „aufgearbeitet“ wurde. Die Buben sollten dort zu Priestern ausgebildet werden. Nur, manche machten der Kirche einen Strich durch die Rechnung und studierten nach dem Abitur Jura oder Medizin im als aufgeklärter empfundenen Erlangen.
Die intelligenten Mädchen schickte man zu den Englischen Fräulein, ein nicht minder traditionsreiches Institut, das heute noch floriert.
Manche der Knaben fanden den Druck, unbedingt und ohne Pause, sozusagen totalitär, in einer hierarchisierten Gemeinschaft im Internat leben zu müssen, als zu hoch. Sie verdrängten nach ihrem Ausscheiden alles, was mit Kirche oder Religion zu tun hat, oder sie setzten sich umso intensiver damit auseinander, studierten Theologie und wurden linke, fast schon revolutionäre Theologen. Einer davon ist Johann Baptist Metz, der unter anderem in Bamberg studierte und Schüler des großen Theologen Karl Rahner wurde.
Heute soll in den Internaten alles etwas liberaler und demokratischer geworden sein.
Das Aufseesianum nennt sich „Katholisches Internat seit 1738“, und alles, was noch aufs 18. Jahrhundert zurückgeht, ist recht alt-ehrwürdig, vom Ursprung her. Aus dem Geschlecht derer von Aufseß, diesem sehr alten Landadel, gingen immerhin ein Fürstbischof, der Gründer des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg, der Gründer des Aufseesianums in Bamberg, ein Autor vieler Schriften über Franken und ein Rechtsgelehrter hervor, der allerdings Karriere bei den Nazis machte und schließlich bei den Nürnberger Prozessen als Zeuge auftrat.
Im Karpfenlandkreis Höchstadt an der Aisch, der zum Hochstift Bamberg gehörte, wurde ab 1960 ein Gymnasien aufgebaut, zuerst in der Stadt Höchstadt selbst, dann in Herzogenaurach. Der erste Direktor von Höchstadt, noch ehrerbietig „Rex“ genannt, fuhr anfangs mit dem Pfarrer über Land, um die Bauern dazu zu bewegen, ihre Kinder aufs Gymnasium zu schicken, wenn sie vom Grundschullehrer als geeignet eingeschätzt worden waren. Zu diesem Zweck richtete dieser erste Höchstadter Schulleiter ein Bussystem ein, das er in den USA kennengelernt hatte, und das heute in ganz Bayern üblich geworden ist – urbane Entwicklungen selbst auf dem Land.
Der Landschullehrer, den es heute leider fast nicht mehr gibt, war ein sehr bedeutender Bildungs- und Kulturträger der deutschen Geistesgeschichte. Er unterrichtete nicht nur in der klassischen, mehrstufigen Dorfschule, sondern spielte auch Orgel, dirigierte den Kirchenchor, schrieb selber Lieder und komponierte. Einer der berühmtesten ist Franz-Xaver Gruber, der zusammen mit dem Hilfspfarrer Joseph Mohr (als Hauptautor) 1818 erstmals „Stille Nacht, heilige Nacht“ aufführte. Es wurde das weltweit berühmteste Weihnachtslied und zählt heute zum Immateriellen Weltkulturerbe der UNESCO. Andere Dorfschullehrer wurden Dichter und schrieben Volkslieder, Gedichte, Erzählungen, Romane, Theaterstücke und vieles andere. Sie wohnten in bildungsbürgerlich eingerichteten Anwesen, die noch nicht die Größe einer Villa hatten, aber insgesamt aus dem Erscheinungsbild der Ortschaft herausragten, ohne das Pfarrhaus zu übertreffen. Die Führungsfiguren im Dorf waren: Ein Landadeliger/Gutsherr oder Prior/Priorin/Abt/Äbtissin – Pfarrer – Lehrer – Bürgermeister und gleichzeitig Wirt – Förster. In alten fränkischen Dörfern ist das noch ablesbar, etwa im Ortszentrum von Schlüsselau, wo das Kloster die Rolle des Schlosses spielt. Hinter der ehemaligen Schule ist das Forsthaus.
Aus der Sicht dieser ländlichen Orte war natürlich Bamberg schon immer eine Weltstadt, unglaublich urban, wenn man bedenkt, dass allein das Jesuitenkloster Sankt Martin mit Kolleg, zu dem eine Bibliothek und ein Naturalienkabinett gehörte, mehr oder weniger so groß war wie ganz Schlüsselau. Außerdem gab es noch die anderen Klöster mit ihren Bildungs- und Kultureinrichtungen in Bamberg, nicht zu vergessen die traditionsreiche Lehranstalt in der Bamberger Theuerstadt bei Sankt Gangolph, wo der berühmte Pädagoge und Dichter Hugo von Trimberg wirkte.
Zu all diesen Bildungseinrichtungen des Abendlands, gehörte ein Garten oder zumindest ein Kreuzgang, der auch noch in Schlüsselau existiert. So einen ummauerten Kreuzgang oder Garten – herausragend sind diesbezüglich die Anlagen des Klosters Michelsberg – hatten schon die Akademien des antiken Griechenland. Man pflegte bei der Bildung der Muße, wandelte durch Gärten und Säulenhallen, und noch Goethe bemerkte bei der Beerdigung Wielands, auf Spaziergängen habe man die Welt gleichsam verändert.
Wo sind diese Gärten bei den Bildungseinrichtungen der Gegenwart?
Der erste Schritt bei einer Weiterentwicklung jeglicher Bildung wäre die Anlage von Gärten und Wandelhallen. So nachzulesen bei einem sehr weisen Amerikaner, bei Robert Harrison, Professor an der Stanford University, in seinem Buch: Gärten. Ein Versuch über das Wesen des Menschen, erschienen bei der University of Chicago Press, Chicago und London 2008.
Der zweite Schritt wäre die Pflege der Muße. Es wäre Abschied zu nehmen von der Hetze durch den Lehrplan, durch das G8, durch die Schulaufgabenstoffe und Lehrpläne aller Jahre.
Meiningen in Thüringen ist eine Art „Heimat der Heimatdichter“, ebenso Schwaben und die Schweiz insgesamt. Auch das Bamberger Land steht da nicht zurück, in so manchen Dörfern gab es dichtenden Lehrer oder Beamte, die etwas für das öffentliche Leben beitrugen, indem sie Ortschroniken, Schauspiele, Gelegenheitsgedichte oder kleine Anekdoten, zum Beispiel über den Main bei Kemmern verfassten.
Viele dieser Dichter hinterließen durchaus wertvolles Kulturgut, manches herzenswärmer und wertvoller als die sogenannte Hohe Literatur. Viele lernten, wie gesagt, in Bamberger Instituten. Ähnlich erging es den ganz Großen, allen voran Hölderlin, Hegel und Schelling, die sogar – welch launiges Spiel des Schicksals, welch ein Zusammentreffen in der Geistesgeschichte! – im Tübinger Stift ein gemeinsames Zimmer bewohnten. Und alle – jetzt kommt wieder die Urbanität Bambergs ins Spiel – hielten sich später in Bamberg oder der Umgebung auf, ohne sich hier freilich wieder zu begegnen: Hegel wohnte 1807–08 in Bamberg, Hölderlin war um 1794 im Bamberger Land bei Dankenfeld und Trabelsdorf zu Besuch und Schelling hatte sein ganz großes Liebeserlebnis im Jahre 1800 in Bamberg, eine heiße Affäre mit seiner geliebten Dorothea, einer geborenen Brendel Mendelssohn, die mit Friedrich Schlegel verheiratet war – all diese Namen führen uns mitten in die schönste Urbanität.
Inzwischen pflegen auch die Bamberger Studentinnen und Studenten Affären – ob sie noch urban sind? Wir hoffen es und untersuchen das Thema Bildung in einer weiteren Folge der Plaudereien; denn, wie ich finde, in einer besseren Form ist dieses Thema kaum zu bewältigen, es ist eine offene Form, und mit geschlossenen wissenschaftlichen oder gar politisch-thesenhaften Texten hat man beim Bildungsthema schon genug Unheil angerichtet, oder?