Gruselett
Der Flügelflagel gaustert
durchs Wirowaruwolz,
die rote Fingur plaustert,
und grausig gutzt der Golz.
Christian Morgenstern
Von Chrysostomos
Gaustern, was mag das sein? Und wie dicht und wo wächst das Wirowaruwolz, was mag sich daraus schnitzen lassen? Wo und wie und was auch immer: die (Kreuz-)Reime sitzen perfekt, denn die „Fingur“, in Rot gehalten, versteht sich aufs Plaustern, und grausig gutzt – „der Golz“ (der trefflich zu alliterieren weiß, auch mit dem Titel dieses Dramoletts). Bei Lichte betrachtet statt zu später, vielleicht zur Geisterstunde, sind allein „grausig“ und „rot“, von Krimskrams wie Konjunktion und Artikel einmal abgesehen, dem deutschen Wortschatz unverändert entnommen. Aber schon den „Flügelflagel“, dieses der Phantasie des Dichters entsprungene, des Fliegens fähige Fabeltier, wird man im Duden, im Wahrig, auch im Dornseiff, selbst im Grimm – und sowieso im Brehm – vergeblich suchen.
Und doch stellt sich vor dem inneren Auge der Leserin (es sind ja überwiegend Frauen, die Gedichte lesen; Männer schreiben sie höchstens, und widmen sie – lesenden – Frauen) ein ziemlich genaues Bild dessen ein, was da in vier Verszeilen, nicht Akten, über die morgensternsche Schaubühne geht. Wobei sich die Bilder, so genau sie jeweils auch sein mögen, naturgemäß unterscheiden. Frau Frischmann beispielsweise wird das „Gruselett“ anders lesen, anders deuten, anders sehen, als Bärbel Tausendschön. Apropos: Gerade die Vieldeutigkeit von Gedichten macht ja ihren Reiz aus. Das ist das Schöne daran. Vier Verse, und abertausend mögliche Interpretationen, Lesarten, und tausend unmögliche dazu, die aber gleichfalls Geltung haben, tun sich auf.
Einer niederdeutschen Malerfamilie entstammte der gebürtige Münchner Christian Morgenstern, Jahrgang 1871. Seine Jugend verbrachte er in Breslau, wo er Jura und Volkswirtschaft, dann Kunstgeschichte und Philosophie studierte. Reisen führten ihn nach Norwegen, wo er sich mit Henrik Ibsen anfreundete, den er, wie auch Strindberg und Hamsun, ins Deutsche übertrug. Auch die Schweiz und bella Italia bereiste er, der von 1894 an in Berlin zuhause war, wo er als Feuilletonist, Redakteur und Schriftsteller wirkte. Er schrieb für Max Reinhardts Kabarett „Überbrettl“ und war Lektor bei Bruno Cassirer. Morgenstern erkrankte früh – und unheilbar – an Tuberkulose, was zahlreiche Aufenthalte in Sanatorien zur Folge hatte. Von 1910 an lebte er in Südtirol, wo er, am 31. März 1914, in Meran verstorben ist. In seiner weniger bekannten Gedankenlyrik, die sich auf die Suche nach Gott macht, ist zunächst die Geisteshaltung Nietzsches, später die des Buddhismus, dann die Rudolf Steiners, den er im Winter 1908/09 kennenlernte, nicht weit (Melancholie, 1906; Ich und Du, 1911; Wir fanden einen Pfad, 1914; siehe auch die als „Tagebuch eines Mystikers“ gedachte, postum 1919 veröffentlichte epigrammatische Prosa Stufen).
Es sind Morgensterns witzige, groteske, skurril-phantastische (Phanta’s Schloß hieß, angelehnt sowohl an Ludwig Tieck wie auch an Arno Holz, der Debütband von 1895), burleske Gedichte, die Morgenstern populär gemacht haben und noch immer halten, also die Galgenlieder (1905) und Palmström (1910). In Gedichten wie „Die Trichter“ kommt er der visuellen Poesie nahe, wie er überhaupt (auch) als ein früher konkreter Lyriker verstanden werden kann, ein Vorgänger Eugen Gomringers, H. C. Artmanns, Gerhard Rühms, Reinhard Döhls, Ernst Jandls, von Franz Mon (eigentlich: Franz Löffelholz). Weiters ist Morgenstern als Aphoristiker und als Autor von parodistischen Kurzdramen, von Dramoletten, hervorgetreten.
Korff, Palmström, Palma Kunkel, Ginganz, Golz, Flügelflagel: Morgensterns kreativem Kopf sind zahlreiche Phantasiegestalten entsprungen. Um wieder einmal Heinrich Detering, den großen Göttinger Germanisten und Lyrikkenner zu Wort kommen zu lassen, der immer einmal wieder auch bei Diskussionsrunden im Münchner Lyrik-Kabinett zu Gast ist: Morgenstern, der „leidenschaftlichste und konsequenteste der neueren deutschen Unsinns-Poeten“, dieser „Dichter eines sanften und vertrackten, sprachverliebten und radikal sprachkritischen Nonsens“, stelle Figuren vor, „die allein aus dem Wortspiel ihre wundersame Gestalt gewinnen“, gerade so, als antworte er „auf Nietzsches Bemerkung, das Ich sei ‚zum Wortspiel geworden’“.
Merkwürdig bleibe es jedenfalls, daß „die Welt“, daß das „lesende Publikum vieler Länder kaum je aufmerksam wurde auf die Frau, unter deren Regie und unentbehrlichem Schutz ein Lebenswerk entstand, das doch seinerseits einige Beachtung gefunden“, schreibt Erika Mann über ihre Mutter (von sechs Kindern, immerhin) Katia, des „Zauberers“ Gattin, als deren siebzigster Geburtstag ansteht. Und führt Morgensterns „Palma Kunkel“-Gedicht ins Feld, denn weitgehend treffe, „was hier von Palma gesagt ist, auch auf die Jubilarin zu“:
Palma Kunkel ist mit Palm verwandt,
doch im Übrigen sonst nicht bekannt.
Und sie wünscht auch nicht bekannt zu sein,
lebt am liebsten ganz für sich allein.
Über Muhme Palma Kunkel drum
bleibt der Chronist vollkommen stumm.
Nur wo selbst sie aus dem Dunkel tritt,
teilt er dies ihr Treten treulich mit.
Doch sie trat bis jetzt noch nicht ans Licht,
und sie will es auch in Zukunft nicht.
Schon, daß hier ihr Name lautbar ward,
widerspricht vollkommen ihrer Art.
Es ist das Wiruwaruwolz und nicht das Wirowaruwolz, wo der Flügelflagel gaustert, denn in letzterem würde er die Rote Fingur gar nicht finden