Rose im Oktober
Die Hacke schweigt.
Am Waldrand steigt
mit hellem Ton
ein Sagenroß
aus Avalon.
Was ist’s? Der Herbst verschoß
in seinem Kupferschloß
die sanfte Munition.
Die Eichel fällt
und fallend, schellt
entzwei am Grund
(o leichte Schlacht!)
in Pfeifchen und
Granate, nun gib acht,
wie Tag sich trennt und Nacht,
Frucht, Schale, Hauch und Mund.
Es knallt, es pocht,
und brausend, kocht
ein fernes Tal
der Beere Sud
und Mark zumal,
wie es ein Kessel tut,
wenn Windes Liebeswut
entfaltet sein Fanal.
Die Flamme singt.
Es überspringt
den eignen Ort
ihr zarter Laut
und zeugt sich fort.
Die Luft, wie aufgerauht,
gibt Echo ihm und baut
vielblättrig Wort um Wort.
Tief im Azur
– Kondwiramur
und Gral zugleich –
trägt, Rot in Blau,
nicht Geist, noch Fleisch,
die Rose ihren Bau
hoch über Feld und Au
ein in das Ätherreich.
Elisabeth Langgässer
Von Chrysostomos
Es ist, obgleich der Sommer nicht sehr groß war, Zeit. Zeit zu wachen, jedenfalls wach und munter zu sein, kurz vor vier am Morgen, Zeit zu lesen – Rilke beispielsweise – und es ist Zeit, jetzt, da die Blätter treiben und der „Herr“ die letzte Süße in den schweren Wein jagt, lange Briefe (oder Gedichtkommentare, die sich bisweilen durchaus als Briefe ausnehmen) zu schreiben. Allerhöchste Zeit ist es, denn der Monat ist so gut wie gelaufen, ist vorbei, Elisabeth Langgässers „Rose im Oktober“ vorzustellen. Und ja, auch Langgässers Oktoberrose erinnert an jene aus Stefan Georges „Komm in den totgesagten park“. George schaut sich, der Wind ist lau, um, und sieht: „Die späten rosen welkten noch nicht ganz“. Aus Büdesheim bei Bingen ist George gebürtig. Aus Bingen wiederum stammt der großartige Sprachmagier Thomas Kling, 2005, das war kein Aprilscherz und viel zu früh, mit gerade einmal siebenundvierzig Jahren verstorben (in Dormagen). Rund dreißig Kilometer südöstlich von Bingen liegt Alzey.
Als Tochter eines jüdischen Baurats, der sich (wie Gustav Mahler) katholisch hat taufen lassen, ist dort im Februar 1899 Elisabeth Langgässer geboren. Sie war Lehrerin an verschiedenen hessischen Schulen und ging 1929 nach Berlin, wo sie bis 1948 blieb, um für kurze Zeit als Dozentin an der Sozialen Frauenschule zu unterrichten. Von 1930 an war sie freie Schriftstellerin; ihr Debüt, der Gedichtband Der Wendekreis des Lammes. Ein Hymnus der Erlösung war bereits 1924 herausgekommen. Langgässer, seit 1935 mit dem Philosophen Wilhelm Hoffmann verheiratet, gehörte dem Kreis um Peter Huchel, um Günter Eich und Oskar Loerke an.
Da Halbjüdin (was für ein Wort!), wurde Langgässer 1936 aus der Reichsschrifttumskammer (was für ein Wort!!) ausgeschlossen und mit einem Schreibverbot belegt. Es sollte, in dieser dunklen Zeit, noch schlimmer kommen. Wiewohl sie bereits schwer an multipler Sklerose erkrankt war, wurde Langgässer ein Jahr vor Kriegsende zu Zwangsarbeit in einer Munitionsfabrik verpflichtet. Ihre aus einer früheren Beziehung mit einem Wissenschaftler stammende Tochter Cordelia – vielleicht nach der bei Shakespeare von König Lear verstoßenen Tochter, die sich dennoch um den Vater fürsorglich kümmert, so geheißen – wurde als Volljüdin (was für ein Wort!!!) nach Theresienstadt und Auschwitz verschleppt, überlebte aber Gott oder wem auch immer sei Dank (Cordelia Edvardson hat 1986 darüber geschrieben: Gebranntes Kind sucht Feuer).
Ihre letzten Lebensjahre verbrachte Elisabeth Langgässer in Rheinzabern, wo sie im Sommer 1950 starb. Postum wurde sie mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. Ihre mythisch-magischen Naturgedichte weisen Einflüsse von Georg Britting, Wilhelm Lehmann, Huchel und Eich auf. Den Eckpfeiler ihres erzählerischen wie ihres lyrischen Schaffens bildet die göttliche Gnade als eine Kraft, die den Menschen zu verwandeln vermag. Oder, wie Heinrich Detering es nennt, in dessen soeben neuaufgelegter Anthologie Reclams großes Buch der deutschen Gedichte. Vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert (Stuttgart, ³2013) die „Rose im Oktober“ zu finden ist: Langgässers Werk, „das aus ihrem gegen die Zeit gehaltenen christlichen Glauben erwächst, steht fast von Beginn an im Schatten von Antisemitismus und Gewalt – und sucht ihn [also den „christlichen Glauben“] auszuleuchten“.
Langgässers Oktoberrose besticht durch ein in allen fünf Strophen durchgehaltenes Reimschema. Einige Erhellungen noch, im Herbstnebel: Avalon meint das Schloß und die letzte Ruhestätte von König Artus in Glastonbury/Somerset. Das keltische Wort bedeutet soviel wie „Insel der Äpfel“, womit in der keltischen Mythologie die Insel der Seligen (in Mörikes Roman – Mörike selbst sprach von einer Novelle in zwei Teilen – Maler Nolten von 1832 heißt sie Orplid) gemeint ist, ein im westlichen Meer gelegenes irdisches Paradies. Kondwiramur (eigentlich Condwirarmurs) ist der Name von Parzivals Ehefrau in Wolfram von Eschenbachs zwischen 1200 und 1210 entstandenem, 1477 erstmals gedruckten Versroman. Mit der Anspielung auf den Parzival – satte 24 810 Reimpaarverse lang – bringt Langgässer also einen waschechten Franken mit ins Spiel, denn die Herkunft Wolframs aus (Wolframs-)Eschenbach, gelegen im Südosten von Ansbach, gilt als gesichert. Oder, sagen wir, wahrscheinlich.