drei fragen an die dichtung
wer pflückte diese olive wer
bediente die maschine als jener
zahnstocher entstand
wer schenkte sherwood anderson
den letzten martini ein?
Lothar Quinkenstein
Von Chrysostomos
In der Suche nach der „inneren Wahrheit“ des Menschen, um dann in „Augenblicken der Offenbarung“ der „Verschüttung des Lebens“, der Vereinsamung und Isolation entgegenwirken und den vielbeschworenen „Sinn des Lebens“ neu begründen zu können (eben durch sein Schreiben), darin sah Sherwood Anderson seine Aufgabe als Schriftsteller. Andersons 1919 erschienener Kurzgeschichtenzyklus Winesburg, Ohio hat die amerikanische Literatur in reichem Maße befruchtet und auf viele Autoren prägend gewirkt, darunter William Faulkner, John Steinbeck, Sinclair Lewis.
Kaum einer ist glücklich in Winesburg, Ohio, diesem fiktiven 1800-Seelen-Ort im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten. „Fast jeder hat eine belastete Geschichte und zeigt einen Zipfel davon, wenn der richtige Zuhörer sich nähert. Oft aber sprechen die Menschen nur mit sich selbst, weil sie ihre innere Welt mit niemandem teilen können.“ Das konstatierte Paul Ingendaay in der FAZ. Was wunder, wenn diese verlorenen Seelen in Winesburg – und auch der, der sie auf die literarische Landkarte gesetzt hat – dann zu einem Martini greifen?
Zu jenen, die des öfteren zu einem Martini griffen, zählen neben Anderson beispielsweise der Engländer Kingsley Amis (Vater von Martin Amis, dem gefeierten Romanautor; fehlt nur noch ein i, oder?), Humphrey Bogart natürlich und Dean Martin (der muß ja schon allein des Nachnamens wegen), Sir Winston Churchill, Herbert Hoover und Franklin Delano Rossevelt, Dashiell Hammett, Hemingway, Mae West und selbstverständlich auch der James-Bond-Schöpfer Ian Flemming.
Lothar Quinkenstein, der drei Fragen an die ihm eigene Dichtung stellt, wurde 1967 in Bayreuth geboren und im Saarland groß (vermutlich im nördlichen, denn „von hasborn nach bildstock“ heißt eines seiner Gedichte). So groß, daß er es ihn in dem kleinen Bundesland nicht mehr aushielt und sich aufmachte nach Freiburg, um an der Albert-Ludwigs-Universität Germanistik und Ethnologie zu studieren. Nach einigen Jahren in Polen, wo er lehrte und unterrichtete, ging er 2011 zurück, nach Berlin.
Anspielungsreich sind Quinkensteins Gedichte, mal ganz offen, dann eher versteckt. Es macht Lust, diesen Spuren, die der ehemalige Stipendiat der Villa Dedecius in Krakau und des Künstlerhauses Schloß Wiepersdorf legt, zu folgen und (bisweilen überraschende) Entdeckungen zu machen, ein ums andere Mal. „mit roten fahnen hänget / und voll mit schwarzen spinnen / die heimat ins land“, das ist natürlich Hölderlin („Hälfte des Lebens“), im Versmaß nahezu exakt getroffen, die Bilder leicht variiert. Das gibt auch, Quinkenstein macht es uns hier leicht, der Titel zu verstehen: „friedrich hölderlin hat mühe einen seiner späteren spaziergänge in worte zu fassen“. An Chet Bakers Album von 1977 erinnert „once upon a summertime“, zugleich an die große amerikanische Lyrikerin Denise Levertov und, über die „sternbaldsehnsucht“, an Ludwig Tiecks Künstlerroman Franz Sternbalds Wanderungen (1798), der im niederländischen Leiden, in Straßburg, Florenz, Rom und in Nürnberg (Albrecht Dürer) sowie an der Tauber spielt.
Quinkenstein geht den Spuren der eigenen Kindheit und Jugend nach, etwa in „Hirtentäschel“, wo gewerkelt wird „im fenster des ersten ferientags“ mit „uhu und frischhaltefolie“, oder in „black box neunundachtzig“ („herrliche zeiten mit einem glas / kaba-kakao auf dem sofa / weichnachten mit ivan rebroff“). Er begibt sich auf Streifzüge durch die deutsche Geschichte und, immer wieder, durch die Polens, zwischen Posen und Krakau, zwischen 1939 und der Jetztzeit. Quinkenstein nimmt „den mund voll verschlagener sprache“ und ballt sich „ein winterwort das / leuchtet auf harschen / wegen dir heim“.
Ja, sie leuchten, diese Gedichte. Zu ihrer Lektüre kann nur geraten werden.
*
zerbrochene gefäße
engelstrompeten im morgenlicht
von keinem wort berührt
von tauben umpickt
von scherben umstickt
bekennen sich zum blühen dieser welt
NB: Lothar Quinkenstein, gegenort. Gedichte. München: Allitera, 2013. Veröffentlicht in der schönen Reihe der „Lyrikedition 2000“, die der verstorbene Göttinger Literaturmensch Heinz Ludwig Arnold begründete und die derzeit von Florian Foß herausgegeben wird.