Mach dir nichts vor, du bist in Ordnung! Nicolas Born wünscht bei Kaffeedampf und roter Marmelade dem lieben Nachbarn „Guten Morgen!“

Guten Morgen

So ein Morgen ist doch gut
wenn es ein guter ist.
Die Nacht war ruhig und gleichmäßig
durchblutet
die Beine gehorchen bei einem
kleinen Trab durch die Wohnung.
Wer bei offenem Fenster gurgelt
der macht auch ein paar Kniebeugen
und bewegt sich gleichgültig
in einem Hauch von Chlorophyll und Minze
fühlt lange noch das Wasser
eiskalt im Nacken abfrottiert
trägt frische Wäsche und ist ganz
gelöst von Schmutz und Schuppen.
Milch steht vor der Tür es ist
nicht Sonntag keiner redet
kein Persilkritiker vermiest
das Weiß des Tischtuchs
der Kaffee dampft die rote
Marmelade ist so rot
keiner hält Anspielungen
für angebracht.
Er ist allein aber er könnte
rufen und wäre es nicht mehr.
Nichts kann ihn hindern nach der ersten
Zigarette alles prima zu finden.
Mach dir nichts vor du bist in Ordnung
dieser Morgen war lange verdient.
Wenn du erst deinen Kopf durch die Straßen trägst
sieht alles
wieder anders aus
nach Morgenzeitung
Mittelwelle und wenn du
dem ersten Arschloch von nebenan
begegnet bist: Guten Morgen!

Nicolas Born

Von Chrysostomos

Wie, fragt man sich, wird das sein, in einigen Jahren, wie ist es denn schon jetzt bestellt, wenn es um die Herausgabe von Briefen geht, die – beispielsweise – Autoren miteinander gewechselt haben? Kaum jemand greift heute noch zu Tusche und Feder, zu Kugelschreiber und Papier, oder spannt wenigstens ein Blatt in die gute alte Olympia, um sich Kolleginnen und Freunden mitzuteilen. Nein, selbst die Steller der Schrift verkehren längst vorzugsweise über E-Post miteinander, nutzen Twitter und das omnipräsente Gesichtsgeschichtsbuch Facebook, um sich auszutauschen und mitzuteilen.

„Der Brief“, heißt es in Volker Meids Sachwörterbuch zur deutschen Literatur (Stuttgart: Reclam, 1999), „dient als Gesprächsersatz. Dank seiner Authetizität besitzt der Brief einen hohen biographischen und kulturgeschichtlichen Quellenwert.“ Zu den fruchtbarsten und bedeutendsten Briefschreibern rechnet Meid unter anderen Kafka, Hugo von Hofmannsthal, Heinrich und Thomas Mann, Hesse und, aus einer anderen Zeit, die Herzogin Elisabeth Charlotte von Orléans, also Liselotte von der Pfalz.

Im Sommer 2007 waren es, über drei Monate hinweg, die von seiner Tochter Katharina edierten Briefe Nicolas Borns, die ganz weit vorne auf den Bestenlisten standen. Glaubt man Borns Dichterkollegen Hans-Ulrich Treichel und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dann eröffnen diese Briefe „intime Einblicke in den Literaturbetrieb der sechziger und siebziger Jahre“, für Helmut Böttiger (Süddeutsche Zeitung) sind sie ein „unverzichtbares Zeugnis zur jüngeren Literaturgeschichte, ein Zeitdokument ersten Ranges“, Michael Braun (Neue Zürcher Zeitung) zufolge entwerfen sie das „Bild einer Literaturlandschaft, die längst versunken ist – obwohl doch die meisten Korrespondenzpartner Borns nach wie vor das literarische Leben der Gegenwart bestimmen“.

Das nun ist noch immer wahr. Peter Handke, Alfred Kolleritsch, der ubiquitäre Michael Krüger, Dieter Wellershoff, Günter Grass und Günter Kunert, Jürgen Theobaly: mit ihnen allen tauschte sich Born aus. Drei Jahre zuvor waren, ebenfalls herausgegeben von der Tochter, Borns Gedichte in einer kritischen Ausgabe erschienen, versehen mit unveröffentlichtem Material aus dem Nachlaß. Der Band fand große Resonanz. Seinem Autor wurde posthum der Peter-Huchel-Preis 2005 zuerkannt.

Born war da ja lange schon tot. Alt ist er nicht geworden. 1979 raffte ihn in der Krebs dahin. 1937 in Duisburg geboren, wuchs Nicolas Born am Niederrhein und in Essen auf. Ernst Meister und der Oberpfälzer Walter Höllerer zählten zu seinen Förderern. Nach Aufenthalten in den Vereinigten Staaten (University of Iowa) und in der Villa Massimo in Rom ließ sich Born 1974 in Dannenberg im niedersächsischen Wendland nieder und engagierte sich im Kampf gegen Atomkraft, Endlager und Wiederaufbereitungsanlage. Zu den großen Romanen der Siebziger gehört Borns Geschichte einer Selbstfindung, Die Fälschung (1979).

Und seine Gedichte? In ihnen eröffnet Born der Naturlyrik neue Wege. Und er fängt – unter dem Einfluß der amerikanischen Beat Poets – den Alltag im Detail ein, setzt sich, und seine Gedichte, dem „Wahnsystem Realität“ aus. „Literatur“, schreibt Born in dem Gedichtband Das Auge des Entdeckers (1972), hat „die Realität mit Hilfe von Gegenbildern, von Utopien erst einmal als die gräßliche Bescherung sichtbar zu machen, die sie tatsächlich ist.“ Nun denn, wohlauf!

Immerhin muß Born er- und bekennen: „Ich gebe zu, daß ich schöne Gedichte schreiben wollte, und einige sind zu meiner größten Überraschung schön geworden.“ So ist es. Oder, anders gesagt, und warum sollten das nicht auch Borns Leserinnen und Leser verinnerlichen und sich Tag für Tag sagen: „Mach dir nichts vor du bist in Ordnung / dieser Morgen war lange verdient.“

NB: Hier noch die bibliographischen Angaben. Zum einen Nicolas Born, Gedichte. Herausgegeben von Katharina Born. Göttingen: Wallstein, 2004, zum anderen, und keinesfalls zu vergessen: Nicolas Born, Briefe 1959–1979. Herausgegeben von Katharina Born. Göttingen: Wallstein, 2007.