Von Musicouskuß
Einspringen und, quasi über Nacht, berühmt werden, zumindest den Grundstein zu einer großen Karriere legen, das ist, in der Musik, beispielsweise Leonard Bernstein gelungen, der 1943 für den erkrankten Bruno Walter ans Pult des New York Philharmonic geholt wurde. Widerfahren ist dergleichen auch, sogar zweimal, dem inzwischen zweiundfünfzigjährigen Jaap van Zweden. In ganz jungen Jahren studierte er an der Juilliard School im Herzen Manhattans bei der legendären Dorothy DeLay, als er gebeten wurde, beim Concertgebouworkest seiner Heimatstadt auszuhelfen, das gerade auf Mexiko-Tournee war. Mit gerade einmal achtzehn Jahren sollte van Zweden dann Konzertmeister dieses Orchester – es gilt vielen als das weltweit beste – werden.
Der Violine sagte er 1995 adieu, um sich fortan dem Dirigieren zu verschreiben. Von 1996 an war er Chefdirigent des Niederländischen Sinfonieorchesters, ging dann zum Residenz-Orchester von Den Haag (2000 bis 2005) und an die Königliche Philharmonie von Flandern (2008 bis 2011). Seit 2008 feiert er als Musikalischer Leiter des Dallas Symphony Orchestra, seit vergangenem Jahr auch als Leiter des Hong Kong Philharmonic Orchestra, große Erfolge. Das Fachmagazin Musical America wählte Jaap van Zweden 2012 zum Dirigenten des Jahres. Als Gast steht er regelmäßig in Chicago am Pult, in Cleveland, Philadelphia und Boston, aber auch bei den Münchner Philharmonikern und in Paris beim Orchestre National de France.
Nun also Berlin, verbunden mit einem abschließenden Gastspiel in – passender könnte es kaum sein – Amsterdam. Für sein Debüt mit den Philharmonikern tauschte van Zweden Béla Bartóks ursprünglich vorgesehene Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta gegen dessen allerhöchste Ansprüche stellendes Konzert für Orchester (1943 entstanden als Auftragswerk für das Boston Symphony Orchestra). Es war eine eindrucksvolle Visitenkarte, die der Niederländer am Freitag in der Philharmonie hinterließ, und es darf nicht wirklich verwundern, daß er von machen Kennern der Szene bereits als Nachfolger von Sir Simon Rattle gehandelt wird, der ja seinen Vertrag nicht über 2018 hinaus verlängert hat.
Van Zweden hat, später auch im zweiten Teil bei der Ersten von Brahms, die Partitur vor sich liegen, obgleich er sie nicht braucht. Er weiß um jedes Detail dieses genialisch orchestrierten Spätwerkes, und er weiß, noch die kleinste rhythmische Verschiebung, noch die feinste Klangfarbenschattierung den Philharmonikern zu entlocken. Aus der Kontrabaßtiefe steigt in einer Folge von Quarten die Introduzione auf, die Solo-Flöte (mit warmem, großem Ton: Andreas Blau, der seit viereinhalb Dekaden bei den Berlinern ist, seit 1969) verdeutlicht, warum es sich hier um ein Konzert für Orchester handelt: nach und nach werden – darin ähnlich Ravels „Bolero“, aber lettzlich doch ganz anders – die einzelnen Instrumentengruppen gefordert, da ist mehr als nur eine Probespielstelle darunter.
Apropos „Bolero“: der ballettnahe zweite Satz, „Gioco delle coppie“ (also „Tanz der Paare“), beginnt und endet mit der kleinen Trommel. Paarweise folgt das muntere Holz, wunderbar gerät der Blechbläserchoral (an der Tuba Alexander von Puttkamer, Schüler des Bamberger Symphonikers Heiko Triebener, der öfters in Berlin aushilft; Solotrompete spielt Tamás Velenczei, der wie sein koordinierter Kollege Gábor Tarkövi aus Bambergs Partnerstadt Esztergom stammt). Das zentrale Andante non troppo nannte Bartók einmal ein „herzzerreißendes Klagelied“, und Jaap van Zweden, der sehr plastisch, vor allem mit der Linken, dirigiert, fast so, wie eine Töpferin den Ton formt, vermag diese Elegie entsprechend auszugestalten, und noch die großen, ernsten Augen sprechen Bände. Das folgende Intermezzo schwelgt in weiten Serenadenbögen und Bratschenkantilenen. Máté Szücs, Solo-Viola, den man noch aus seinen Bamberger Tagen in bester Erinnerung hat, darf an die Heimat denken, wenn Bartók in bewußter Ironie den Operettenschlager „Schön, wunderschön bist du, Ungarland“ herbeizitiert; auch ist „Heut geh ich ins Maxim“ aus der „Lustigen Witwe“ nicht weit. Das Presto-Finale, flirrende Streicher, satte Pauken, doppelt besetzte Harfe, gerät zum flotten Kehraus. Ein Schmaus, dem sich die Berliner Philharmoniker mit ihrer blendenden Virtuosität gern hingeben.
Im Pausengespräch mit dem Geiger Christoph Streuli erzählt van Zweden, daß er als Konzertmeister in Amsterdam jede Woche einen Meisterkurs im Dirigieren erhalten habe von solchen Größen wie Solti, Haitink, Harnoncourt, Bernstein. Leonard Bernstein war es auch, dem van Zweden letztlich den Impuls zum Dirigieren verdankt. Bei einem Gastspiel im Berliner Konzerthaus wollte Lenny im Saal sitzen und forderte deshalb seinen Konzertmeister auf, den ersten Satz von Mahlers Erster („Langsam. Schleppend. Wie ein Naturlaut“) zu leiten. Lenny hernach zu Jaap. „I can see a few good things there. I think you should take conducting seriously.“
Die Macht des Dirigenten steht van Zweden fern. Er, der Tag für Tag hart arbeitet und in der Frühe aufsteht mit der Frage, was er denn heute Neues in der Partitur entdecken könne, möchte dem Orchester ein guter Vater sein. Zuerst, sagt er, kommt der Komponist, dann kommen die Musiker, zuletzt der Mann am Pult, der immer bescheiden sein sollte. Van Zweden möchte Teil der Musik sein, statt lediglich vorn zu stehen und Anweisungen zu geben. Brahms habe er im Blut, sei Teil von ihm, genauso aber hätten die Berliner Philharmoniker ihre Brahms-Tradition, die sie ihm vermittelten. Und irgendwo in der Mitte, dort würden sie sich treffen und zusammenkommen. Tatsächlich spricht van Zweden von einer der Musik geschuldeten, knapp fünfzigminütigen „love affair with each other“.
Statt nur das Bombastische der Ersten Symphonie von Brahms herauszustellen, sucht, und findet, van Zweden immer wieder die zärtliche, die weiche, die anmutige Seite des gebürtigen Hamburgers, etwa in dem sehr schönen, expressiven Meno-allegro-Schluß (das Holz!) des Eröffnungssatzes und im Oboen-Solo (dem Himmel nah: Jonathan Kelly; Albrecht Mayer, der Ex-Bamberger, hatte frei) des Andante sostenuto. Großartig, wie immer, Stefan Dohr am Horn, nachzuhören beispielsweise im leidenschaftlichen Hornruf zu Beginn des Finales. Sehr sauber der bald darauf folgende, keinesfalls einfache Posaunenchoral, beginnend mit mit einem hohen „a“ im zarten Piano; von einer einzigen Stelle kurz zuvor abgesehen, ist dies, nach gut einer halben Stunde, der erste Einsatz überhaupt für Olaf Ott &. Co.
Jaap van Zweden drückt mächtig aufs Tempo. Aber auch so kann man Brahms’ Erste geben. Unmittelbar sich bemerkbar machende Bravorufe, ein zufrieden und glücklich strahlender Konzertmeister (Guy Braunstein, gebürtig aus Tel Aviv, der das Orchester verläßt), langer, mehrere Vorhänge fordernder Applaus, ein harmonisches Bouquet von weißen, rosafarbenen und in Orange leuchtenden Rosen, das der Dirigent sogleich an die Cellistin weiterreicht – sicht- und hörbare Zeichen all dies, daß da jemand angekommen ist in der Berliner Philharmonie. Ob sie, von 2018 an, Jaap van Zwedens Zuhause sein wird, bleibt mit einiger Spannung abzuwarten.
NB: Nein, ich war nicht in Berlin. Aber die Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker macht es möglich, auch von Bamberg oder von Gresaubach aus die Konzerte zu verfolgen (und jederzeit zu einem umfangreichen Archiv Zugang zu haben). Tonqualität und Kameraführung begeistern jedenfalls. Keine schlechte Sache. Näheres hierzu unter http://www.digitalconcerthall.com/de/.
NBB: Am Sonntag, dem 19. Mai, wird in der Digital Concert Hall (und, ergänzend, in einigen Lichtspielhäusern, so im Bamberger Cinestar) Claudio Abaddo am Pult seines ehemaligen Orchesters zu erleben sein. Auf dem Programm Auszüge aus der Bühnenmusik zu „Ein Sommernachtstraum“ mit Deborah York, Sopran, und der auch aus Bamberg bekannten Mezzosopranistin Stella Doufexis, sowie die „Symphonie fantastique“.
NBBB: Marcus Rudolf Axt, der bislang für die Programmplanung der Berliner Philharmoniker verantwortlich zeichnete, wird von September an als Nachfolger von Wolfgang Fink Intendant der Bamberger Symphoniker – Bayerische Staatsphilharmonie. Welcome back!