Pariser Reminiszenz
Dieser Mai ist kalt. Akazienblüten
fallen aus einem Gedicht, das ich
vor Jahren las: „Keinen Faden durchtrennen.“
Renate Schmidgall
Von Chrysostomos
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, deren erste Ausgabe am 1. November 1949 herauskam, zählt, neben der Neuen Zürcher Zeitung und, cum grano salis, der Süddeutschen, zu den wenigen deutschsprachigen Blättern, in deren Feuilleton regelmäßig Gedichte zu lesen sind. In der FAZ kommt ihnen ein Ehrenplatz zu: sie stehen auf Seite eins. Gestern beispielsweise Renate Schmidgalls „Pariser Reminiszenz“.
Hier also ist Schmidgall einmal selbst als Lyrikerin zu erleben. Ihr Geschäft, ihr Handwerk, ihr Beruf ist sonst das des Übertragens von Gedichten. Wie sonst wohl nur noch Karl Dedecius (geboren im Mai 1921 in Łódź; er war vor einigen Jahren einmal zu einer Lesung im Internationalen Künstlerhaus Villa Concordia am Bamberger Regnitzufer zu Gast ), der 1980 das Deutsche Polen-Institut auf der Darmstädter Mathildenhöhe gründete, dem er bis 1999 vorstand, hat sich Renate Schmidgall bei der Vermittlung polnischer Literatur und Kultur hierzulande hervorgetan, und sie tut das noch immer. Gemeinsam mit Dedecius, dessen wissenschaftliche Mitarbeiterin sie von 1990 bis 1996 war, hat Schmidgall zuletzt die Nobelpreisträgerin von 1996 ins Deutsche gebracht, Wisława Szymborska (Glückliche Liebe und andere Gedichte. Berlin: Suhrkamp, 2012).
Neben Gedichten hat Schmidgall auch Prosa übersetzt, zum Beispiel, gemeinsam mit Olaf Kühl, die um Politik, Eros, Mystik und Drogen kreisenden Erzählungen In der Opiumhöhle von Władisław Reymond, dem 1924 der Literaturnobelpreis zugesprochen worden war. Außerdem ist Schmidgall so etwas wie die Hausübersetzerin des Autors, Journalisten und Literaturkritikers Andrzej Stasiuk (neben vielen anderen Büchern soeben Kurzes Buch über das Sterben. Berlin: Suhrkamp, 2013).
Renate Schmidgall, 1955 in Heilbronn geboren, hat in Heidelberg Slawistik und Germanistik studiert. Für ihre Übertragungen aus dem Polnischen ist sie mehrfach ausgezeichnet worden. So war sie 2006 erste Preisträgerin des von der Stadt Offenburg und von der Hubert-Burda-Stiftung ausgelobten Europäischen Übersetzerpreises. Schmidgall ist in der glücklichen Lage, die Bücher, die sie übersetzt, sich aussuchen zu können. Sprich: „Ich übersetze, was mir interessant und gut erscheint“, wie sie in einem Gespräch im Goethe-Institut Warschau im April 2011 sagte.
Trotz ihres Renommees, trotz ihrer Erfolge, könne sie vom Übersetzen im Prinzip nicht leben. Aufgrund früherer Lebensumstände habe sie sich eine Situation geschaffen, in der sie über die Runden komme. Und: „Zum Glück mache ich in den letzten Jahren viele Lesungen und Übersetzerwerkstätten, das bessert die dürftigen Honorare etwas auf.“
Für Schmidgall ist das Übersetzen eine Kunst, sind Übersetzungen eigenständige Kunstwerke: „Die Übersetzung ist ebenso wie das Original ein sprachliches Kunstwerk. Wenn sie das nicht ist, ist sie keine gute Übersetzung. Das Übersetzen ist eine Tätigkeit, in der sich Handwerk und Kunst verbinden. Das Handwerk ist die Voraussetzung, ein Kunstwerk zu schaffen. Das ist ja auch beim Autor so. Natürlich gibt es den großen Unterschied zwischen Autor und Übersetzer: Der Übersetzer ist austauschbar, der Autor nicht. Aber beide sind auf ihre Kreativität angewiesen, und der Übersetzer ist im gleichen Sinn Künstler wie ein Pianist, der ein Stück von Chopin spielt, oder ein Schauspieler in der Rolle des Faust. Er muß sich tief in seine Vorlage hineinversetzen können, um sie adäquat zu interpretieren.“
Schmidgall versteht sich auch auf das Schreiben von Gedichten. Das macht die „Pariser Reminiszenz“ deutlich. Auf welches Gedicht sie in dem ihren anspielt, vermag ich leider nicht zu sagen. Wie auch immer: in diesen kalten Maitagen wärmt einem Schmidgalls Erinnerung an einen Aufenthalt in Paris, der Jahre schon zurückliegt, und an das damals dort gelesene Gedicht, dessen Faden sie in der „Reminiszenz“ aufnimmt, das Herz.