Schwarze Magie auf weißem Papier. Zu den gesammelten Gedichten von Doris Runge.

Vielleicht bleibt

am ende
nur die scham
buchstaben
kriechtiere
die sich paarten
auf weißem papier

Doris Runge

Von Chrysostomos

Zauberhaft sind sie, diese Verse, sie sind von leichtem Gewicht und wiegen doch schwer. Denn was sie zum Ausdruck bringen – und sie sagen, in nur wenigen Worten, viel – ist von Belang. Sie wirken, einmal gelesen, lange noch nach. Geschrieben hat sie Doris Runge, und soeben sind bei der Münchner Verlags-Anstalt unter dem Titel zwischen tür und engel Runges Gesammelte Gedichte herausgekommen. Ausgewählt und mit einem Nachwort (das sich weitgehend an eine Besprechung Deterings in der Frankfurter Allgemeinen anlehnt) versehen hat sie Heinrich Detering, der Göttinger Germanist, ein Bob-Dylan- und ein Thomas-Mann-Mann, selbst Lyriker.

Man wird in der deutschsprachigen Lyrik lange suchen, bis man auf Gedichte stößt von einer derartigen Schlichtheit und Eleganz, von einer sich auf kleinstem Raum entfaltenden Sprachmagie, die einen unmittelbar in den Bann zu schlagen imstande ist. Spät erst hat Doris Runge, die 1943 im mecklenburgischen Carlow Geborene, debütiert. Sie zählte bereits zweiundvierzig Lenze, als sie mit Liedschatten hervortrat, immerhin ausgestattet mit einem Vorwort des großen Karl Krolow. Zuvor war lediglich ein Band mit Märchen erschienen, was nicht verwundern kann, denn Hans Christian Andersen und die Gebrüder Grimm, überhaupt die Romantiker, Adelbert von Chamisso etwa, Achim und Bettine von Arnim, Clemens Brentano, sind bei Runge nie weit.

In den frühen siebziger Jahren lebte Runge mit ihrem damaligen Mann, dem Maler Jürgen Runge, zweitweilig auf Ibizza. Seit 1976 hat sie ihren Wohnsitz im „Weißen Haus“ des ehemaligen Benediktinerklosters im schleswig-holsteinischen Cismar. Auch in Bamberg ist Runge keine Unbekannte. An der Otto-Friedrich-Universität hielt sie 1999 die Poetik-Vorlesungen. Hierzu lese man Band 45 der Reihe „Fußnoten zur Literatur“, herausgegeben von Heinz Gockel und Doris Runge. aber ich breche dir wörter wie brot betitelt.

Doris Runge bedient sich durchgehend der Kleinschreibung. Ihre Gedichte sind zumeist reimlos, verzichten komplett auf Zeichensetzung (und setzen doch gerade auch dadurch Zeichen, indem sie nämlich interpunktionslos Mehrdeutigkeit ermöglichen), sind freie, nicht an ein Versmaß gebundene Kunststücke, in denen häufig ein einziges Wort genügt, um die Zeile zu füllen, um sie zum leuchten zu bringen, wie die alsbald zu Kriechtieren mutierenden „buchstaben“ in unserem eingangs angeführten Exempel.

Runges Gesammelte Gedichte, eine Auswahl aus zehn Lyrikbänden, plus weiteren siebzehn, von 2013 rührenden Gedichten, im „federleicht“ betitelten Schlußkapitel dargeboten, sind auf hochwertigem Papier erschienen, mit Lesebändchen versehen und überhaupt – außen wie innen – von der DVA sehr schön aufgemacht.

*

schluss punkt

nur noch
dieser
gedankenstrich
die verlängerung
die auslaufende
linie
am horizont
ziehende vögel