Herzschrift am Himmel, dem Dunkel voraus, in Sichelmondform. Zur Pulsfrequenz beim Lesen der jüngsten Gedichte von Volker Sielaff. Nebst einer verdient-dezidierten Eloge auf dessen Verleger.

Kamikaze

Reuige Herzschrift am Himmel. Er ist ihr Zeltdach
ihre Arena für trunkene Kamikaze-Flüge, wenn Fiepen
Einzelner in Gekreisch der Vielen übergeht.

Himmelschreiend der Abend verkündet wird, flugs
taumelnde, stilisierte Tobsuchtsanfälle, dem Dunkel
voraus, dann wieder ruhiges Segeln der Sichel-

mondform. Man sitzt auf dem Balkon, da fuchteln
sie kopfüber hinpfeifend huschend nähen dem Himmel
Gegenwart an, in der Nebenbeipulsfrequenz.

Lebschlafen im Flug. Sterben an geheimen Orten, in
abseitiger Mauerfalte. Von wo das Testament
ihres Übermuts weitergegeben wird, Jahr um Jahr,
die Mauersegler.

Volker Sielaff

Von Chrysostomos

Self-Portrait in a Convex Mirror (1975; nach dem Gemälde von Parmigianino, welches im Kunsthistorisches Museum in Wien hängt) von John Ashbery und, von Ernst Jandl, selbstporträt des schachspielers als trinkende uhr (1983) heißen, wenn man so will, und wir wollen nun mal so, zwei der bedeutendsten Lyrikbände der vergangenen vier Dekaden. Vermessen wäre es sicherlich, (schon jetzt, aber warum eigentlich nicht) behaupten zu wollen, Volker Sielaffs Selbstporträt mit Zwerg, von 2012 (bei Christian Lux, Wiesbaden – hierzu später mehr – herausgekommen), ließe sich dieser illustren Ahsbery-Jandl-Reihe ein- und anfügen. Festhalten aber läßt sich, auch anfangs März 2013, in der Bamberger Frühlingssonne, daß sich die Lektüre dieser nicht ganz fünf Dutzend auf neun Schubladen verteilte Gedichte lohnt. Man spürt das, unter anderem, an der steigenden Pulsfrequenz.

Volker Sielaff kommt aus der Lausitz, ist 1966 in Großröhrsdorf, wo die Böhmisch Brauhaus Brauerei zuhause ist, geboren und lebt als Schriftsteller und vogelfreier Journalist – seine Porträts und Besprechungen erscheinen im Berliner Tagesspiegel und in den Dresdner Neuesten Nachrichten – in der Stadt der Semper-Oper. Vor einem Jahrzehnt legte Sielaff bei zu Klampen in Springe sein Debüt vor, Postkarte für Nofretete. Seine Gedichte sind, auch in Übersetzungen, in maßgeblichen Anthologien vertreten, beispielsweise in dem vom gebürtigen Freiburger Michael Hofmann edierten The Faber Book of 20th-Century German Poems, das einen Kanon von Morgenstern und Else Lasker-Schüler hin zu Jan Wagner, Jürgen Theobaldy, Hauke Hückstädt und eben Volker Sielaff absteckt.

An Theobaldys „Arbeit mit Papier“, ein Loblied auf das Handwerk, auf die Schwalbe, auf die Poesie, irgendwie auch auf die Liebe, auf das Blau des Himmels, erinnert entfernt Sielaffs „Kamikaze“, auch wenn Apus apus, der Mauersegler, mit den Schwalben nicht näher verwandt ist. Diesen Sommervogel, für den Sielaff im Titel das japanische Wort für „göttlichen Wind, Hauch Gottes“ findet, um es erst im Schlußvers aufzulösen, nennen die Französen martinet noir, die Italiener rodone, die Schweden tornseglare, die Finnen tervapääsky und die Ungarn sarlósfecske, während der Mauersegler im Englischen schlicht swift gerufen wird, was einen Querverweis auf „Gullivers Reisen“ erlaubt, das zweite im Selbstporträt zu findende Gedicht.

Mauersegler verbringen den größten Teil des Lebens in der Luft (hat man je von einem gehört, der nicht schwindelfrei war?). Diesen Himmel, dieses Zeltdach, „ihre Arena“ erobern sie sich hierzulande Anfang Mai. Sielaff, der bereits auf ihre Rückkehr wartet, teilte Chrysostomos e-postalisch mit: „Meistens sind sie pünktlich zum ersten Mai am Himmel zu sehen, frühesten am letzten oder vorletzten Apriltag.“ Himmelschreiend verkünden die Mauerseglerkamikazen, „wenn kreischende Trupps in wilder Jagd um Hausgiebel rasen“ (Peterson / Mountfort / Hollom, Die Vögel Europas, zehnte Auflage, 1973: 199), den Abend, „wenn Fiepen / Einzelner in Gekreisch der Vielen übergeht“ (Sielaff, Selbstporträt, 2012: 89). Zur Brutzeit, heißt es bei Peterson et al., seien sie „sehr laut“, diese Kamikazenmauersegler. Denn da schickten sie, so etwa im dreifachen Forte, ihr schrilles, langgezogenes, durchdringendes „srih“ in den Himmel. In Mauerspalten nisten sie, in Mauerfalten sterben sie (bei Sielaff).

Apropos Falten: Warum immer diese Assoziationen, diese sich plötzlich – der Puls schlägt sofort siebzehneinhalb Tick schneller – einstellenden Verbindungen, Bezüge? Vielleicht, weil sie (viele) gelungene, gute, gutgemachte Gedichte auszeichnen und deren Lektüre zu einem so schnell nicht zu vergessenden Erlebnis machen? Harold Bloom hat, nebenbei, darüber ein feines Buch geschrieben, über die Einflußangst: The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry (1973). Falten, Falten und Fallen heißt ein früher (1994 bei Suhrkamp erschienener) Gedichtband von Sielaffs Dresdner Autorenkollegen Durs Grünbein. Beide gehen sie gern ins Museum, Sielaff und Grünbein. Wei Ashbery übrigens auch. Und es kann kaum verwundern, daß Sielaffs „Felszeichnung“, ganz am Ende, auf „Falten und Fallen“ verweist. Nicht kursiv gesetzt, aber, womöglich, gedacht. Mitgedacht.

Apropos Museum (der Poesie von heute): Sielaff nimmt, mit geschultem Auge und mit einer Hand, die den lyrischen Stift sicher in freien Füßen zu führen weiß, immer wieder die Malerei in den Blick. Daher der Titel seines luxbooks-Bandes, daher die Gedichte auf ein Gemälde Paul Gauguins („Schlaf“; Gauguin dazu: „Jesus im Garten von Gethsemane“), von Gustave Courbet („Die Steinklopfer“), auf eine Arbeit Cy Twomblys (dazu hat auch die bezaubernde, zum heutigen Wetter passende Marion Poschmann geschrieben, und wir darüber, also über Poschmanns Gedicht). Diese Welt, diese von Volker Sielaff so poetisch wie meisterhaft wie meisterhaft ornithologisch (hierzu auch: „Kranich“, unmittelbar vor den Sichelmondschwingenkamikazennichtschwalbenmauerseglern zu lesen) sie hat, ganz ohne Zweifel, Gewicht.

NB: Nun ist es ja zu der im Titel angekündigten Lobrede, auf Ashbery übersetzt bei Hanser und, soeben, bei Luxbooks, gar nicht gekommen. Das holen wir nach!. Wo wird denn sonst gute Lyrik publiziert.