Peter von Liebenau
Wir Bamberger sind im Grunde alle Philosophen, auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen; denn immer wieder hört man, dass jemand sagt: „Was machen die jetzt wieder für einen Sch…!“ Damit meint er „die Stadt“, die Verwaltung, ihre Bürger. Das heißt also, er geht aus sich heraus und betrachtet alles aus einer höheren, distanzierten Perspektive, denkt darüber nach – er reflektiert, philosophiert.
Um diese Philosophie zu verbessern, besuchen überraschend viele Bambergerinnen und Bamberger die alljährliche Hegelwoche allhier, auch wenn sie nicht der Universität angehören. Außerdem ist die hiesige philosophische Fakultät sehr groß, vor allem wenn man die verschiedenen Lehrbeauftragten anschaut, die sich da tummeln. Sehr interessant. Bedeutende Namen, die viel veröffentlicht haben und – zusammen mit dem Theologischen Institut und der Literaturwissenschaftlichen Fakultät zum Beispiel – aus Bamberg ein kleines Oxford oder Harvard machen. Wirklich!
Außerdem gibt es da noch den Straßenkehrer bei uns an der Ecke. Ein großer Philosoph und Melancholiker. Nicht umsonst wird übrigens im Melancholie-Buch von Walter Benjamin über den „Ursprung des deutschen Trauerspiels“ Bamberg erwähnt.
Ein dunkler Mensch. Darüber kann auch die leuchtfarbene Kleidung nicht hinwegtäuschen. Unser Straßenkehrer hat eine gerade Haltung, im Innern längst gebrochen und darüber bereits wieder erhaben. Er hat eine Geradheit und Aufrichtigkeit, um die manch andere Menschen ihn beneideten, sähen sie genauer hin. Aber in unserem schnelllebigen, urbanen Bamberg hetzen ja alle an ihm vorbei.
Früher hätte man ihn als einen Erleuchteten erkannt, als einen Eremiten im Strom des Lebens und der Zeit, der seine philosophischen Meditationen an der Straßenecke abhält, diesen Diogenes und Weisen, den wir übersehen, der aber uns durchschaut, je besser, desto schneller wir an ihm vorüberhetzen.
Ich tu das nicht. Er ist mein Freund. Wir pflegen eine nonverbale Minimalkommunikation. Ich sehe ihn an und blicke jetzt auch durch die Zeit. Ich schau nicht zu, wie einer in sein protziges Auto steigt, sondern ich beobachte vom Fenster aus, wie dieser gerade, aufrichtige Mann – der urbane Mann des neuen Jahrtausends – seinen langen Greifstab zur Hand nimmt – die Hände sind unter großen, ungemein zweckmäßigen Handschuhen verborgen – und, ohne sich zu bücken, eine Zigarettenkippe aufpickt. Er gibt sie in seinen Müllwagen.
Albert Camus’ Sisyphos, dem Mythos entstiegen, steht da vor mir. Die Absurdität der Welt macht eine Pause. Becketts Urbanität, die er mal kurz nach Bamberg brachte, weht vorüber. Die nächtliche Spasskultur von Gerhard Schulzes „Erlebnisgesellschaft“, in Bamberg formuliert, bricht einen Augenblick zusammen, wird transzendiert. Wir denken nach. Ein paar hübsche Frauen kommen vorbei. Der Straßenkehrer schaut nicht hin. Wendet den Blick ruhig zur Seite, zieht an seiner Zigarette, bläst den Rauch aus – und schnippt die Kippe weg. Irgendjemand wird sie schon aufheben.