Von Zeitungen, Schmetterlingen und Gedichten. Zu Johannes Kühns Lyrik.

Zeitung am Kaffeetisch

Riesenschmetterling in der Hand,
meine Zeitung,
damit fliege ich weit. In die Gegenden auch,
welche häßlich sind
von Kriegsleichen,
und zum Schornstein,
von dem der Putzer fiel,
und das Blut wischte Ruß von den Kleidern.

Riesenschmetterling in der Hand,
meine Zeitung,
damit fliege ich weit. Zum Hochzeitsbett
einer Königin,
wir haben sie noch in Europa,
und in einen Saal komm ich,
wo man Titel verteilt.

Viel, viel weiter als Australien
flieg ich am Kaffeetisch,
Riesenschmetterling in der Hand,
meine Zeitung.

Johannes Kühn

Von Chrysostomos

Spät erst wurde man auf ihn aufmerksam, auf Johannes Kühn, den am 3. Februar 1934 in Bergweiler als jüngstes von neun Geschwistern in eine saarländische Bergarbeiterfamilie hineingeborenen Dichter. 1989 erschien, auf Vermittlung von Ludwig Harig und auf Betreiben Michael Krügers, bei Hanser Ich Winkelgast. Allein bei Hanser folgten sechs weitere, von der Kritik positiv aufgenommene Lyrikbände, zuletzt 2007 Ganz ungetröstet bin ich nicht; auch Gedichte in Mundart liegen andernorts vor, auch Prosa, Einakter, Märchen. Zudem ist Kühn, der sich 2004 über den Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg freuen durfte, ins Japanische übersetzt worden, ins Tschechische, ins Französische, Spanische und Englische.

Johannes Kühn ist ein Vielschreiber, schreibt jeden Tag, oft am Wirtshaustisch in seinem Stammlokal „Zur Post“ in der Hasborner Hauptstraße, oder, 400 Meter weiter, im Landgasthaus „Huth“. Dort sitzt er mit seinen Freunden (und Herausgebern) Irmgard und Benno Rech über einem Schoppen oder einem Glas Bier beisammen und schreibt und schreibt und schreibt: „Ins gelbe Bier / die gelbe Sonne fällt. / Die Schatten, schwarze Männer, / bellen an den Tischen.“ („Im Gasthaus“). Häufig über Stichwörter, die ihm die Rechs vorgeben. Kühn versteht sich als Handwerker, und es ist die Kunst des Schreiben, auf die er sich vorzüglich versteht.

Das war nicht immer so. Kühn, der von sich sagt, er brauche nicht über sein Leben zu sprechen, weil ja alles in den Gedichten stehe, wurde immer wieder von einer psychischen Krankheit heimgesucht; in den frühen Achtzigern zieht sich der Außenseiter vollständig zurück, fällt, fast eine Dekade lang, in tiefes Schweigen. Seit 1992 schreibt Kühn, von neuem Lebensmut erfüllt, wieder Gedichte. Beinahe täglich. Gedichte, sagen seine beiden Herausgeber, fallen Kühn gleichsam zu: „Daher ihre erstaunliche Zahl. […] Seine Gedichte entstehen meist in einem Wurf und oft nicht am Schreibtisch, er notiert sie spontan auf einem Spaziergang, im Autobus, beim Gasthausbesuch.“

Kühn besuchte die strenge Missionsschule der Steyler Missionare in St. Wendel. Hölderlins Briefroman Hyperion schrieb er in Schönschrift ab, Mörike, Goethe und Klopstock lernt er in Reclam-Heften kennen, entdeckt Trakl und Rimbaud. Zwischen 1963 und 1973 schuftet Kühn in der Tiefbaufirma seines Bruders als zweiter Mann am Bagger, also als „derjenige, der mit Schippe und Hacke für das Planum sorgen“ muß. Und doch entstehen nebenbei Gedichte, Theaterstücke, Märchen. Er veröffentlicht in Kleinverlagen, doch größere Erfolge bleiben aus, bis ihn Michael Krüger vom Hanser Verlag entdeckt und fördert. Krüger über Kühn: „Man ist sehr erfreut, wenn man plötzlich den Ton vernimmt, der sich von allen anderen unterscheidet.“

Die Gedichte dieses „sanften Außenseiters“, heißt es in der Begründung der Hölderlin-Jury, seien „gestimmt auf den Grundton melancholischer Lebensfreude und wissender Ironie“, lakonisch seinen sie, „im besten Sinn einfach und dem Leser zugewandt“. Zugleich würden sie „unangestrengt den Bild- und Formkanon europäischer Daseinsdeutung“ in sich aufnehmen. Wir wünschen angenehme Lektüre, und gratulieren dem Dichter und Spaziergänger nachträglich zu seinem Neunundsiebzigsten.

NB: Johannes Kühn, Mit den Raben am Tisch. Ausgewählte und neue Gedichte. Mit einem Nachwort von Ludwig Harig. München: Hanser, 2000. 208 Seiten, 15,20 Euro.

NBB: Johannes Kühn, Ich muß nicht reisen. Siebzehn Gedichte. Warmbronn: Keicher, 2004. 28 Seiten, fadengeheftet, Broschur. 10 Euro.

NBBB: Ein ganz wunderbares Heft zu Johannes Kühn ist 2009 in Thomas Störmers edition schaumberg in Alsweiler herausgekommen – EntdeckerMagazin Johannes Kühn. Der Dichter aus dem Dorf. Broschur, Großformat, durchgehend farbig. 124 Seiten, 14 gut angelegte Euro.