Grau zieht der Nebel durch die an Bäumen leere Stadt. Eine Erinnerung an Alexandra. Und eine Hommage an all die Bäume, die in und um Bamberg derzeit ihr Leben lassen müssen.

Mein Freund der Baum

Ich wollt‘ dich längst schon wiedersehn,
mein alter Freund aus Kindertagen,
ich hatte manches dir zu sagen,
und wußte, du wirst mich verstehen.
Als kleines Mädchen kam ich schon
zu dir mit all den Kindersorgen.
Ich fühlte mich bei dir geborgen,
und aller Kummer flog davon.
Hab‘ ich in deinem Arm geweint,
strichst du mit deinen grünen Blättern
mir übers Haar, mein alter Freund.

Mein Freund der Baum ist tot,
er fiel im frühen Morgenrot.

Du fielst heut‘ früh, ich kam zu spät,
du wirst dich nie im Wind mehr wiegen,
du mußt gefällt am Wege liegen,
und mancher, der vorüber geht,
der achtet nicht den Rest von Leben
und reißt an deinen grünen Zweigen,
die sterbend sich zur Erde neigen.
Wer wird mir nun die Ruhe geben,
die ich in deinem Schatten fand?
Mein bester Freund ist mir verloren,
der mit der Kindheit mich verband.

Mein Freund der Baum ist tot,
er fiel im frühen Morgenrot.

Bald wächst ein Haus aus Glas und Stein,
dort wo man ihn hat abgeschlagen,
bald werden graue Mauern ragen,
dort wo er liegt im Sonnenschein.
Vielleicht wird es ein Wunder geben,
ich werde heimlich darauf warten,
vielleicht blüht vor dem Haus ein Garten,
und er erwacht zu neuem Leben.
Doch ist er dann noch schwach und klein,
und wenn auch viele Jahre gehen,
er wird nie mehr derselbe sein.

Mein Freund der Baum ist tot,
er fiel im frühen Morgenrot.

Alexandra

Von Chrysostomos

Beispielsweise den Portugiesen muß man so etwas nicht sagen: daß Liedtexte eben auch Poesie sind, jedenfalls sein können. Sérgio Godinho ist im südwestlichen Teil der iberischen Halbinsel arg populär, nicht nur seiner Melodien wegen. Anderswo hat es Leonard Cohen in die maßgebliche Norton Anthology of Modern Poetry geschafft, wird Bob Dylan immer einmal wieder als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt. Und bei uns?

Regelmäßige Leser dieser Reihe konnten unlängst erfahren, daß Reinhard Mey, daß Konstantin Wecker, Hannes Wader, daß sogar Tocotronic und Fishmob in die Deutschen Balladen Eingang gefunden haben, die Wulf Segebrecht bei Hanser herausgegeben hat. Das kommt einem Ritterschlage gleich. Wie nun steht es denn um den oft gescholtenen Schlager?

Ein Blick auf Alexandra sei gestattet. An deren „Mein Freund der Baum ist tot“ muß Chrysostomos in letzter Zeit häufig denken, nicht nur, weil ihm Melodie und Arrangement (und eben auch der Text) gut gefallen, weil es die Mutter ständig hörte, während er dazu vor dem Musikschrank einschlief. Nein, auch aufgrund der nicht zu leugnenden Tatsache, daß in Bamberg und im Umland – darauf macht Michael Wehner immer wieder im Fränkischen Tag aufmerksam – Bäume ihr Leben lassen müssen. Nicht nur ihm, Wehner, ist das ein Ärgernis.

Bäume, sagt Wehner, hätten nicht nur keine Lobby, sondern seien umzingelt von naturfeindlichen Behörden. Das zeige der schleichende Wandel einer von Jahr zu Jahr ärmer werdenden Kulturlandschaft. In Bischberg ging es jüngst zwei Walnußbäumen an den Kragen, bei Ebrach soll die womöglich dickste deutsche Buche bald gesprengt werden. R.I.P.

In Frieden ruhen möge auch Alexandra. Sie tut das ja, leider, lange schon. Doris Nefedov, geborene Treitz, wurde keine achtundzwanzig Jahre alt. Das Leben, das am 19. Mai 1942 im ostpreußischen Heydekrug (heute Šilutė geheißen und zu Litauen gehörend) begann, fand am 31. Juli 1969 ein abruptes Ende. Auf dem Weg zu einem dringend angesagten Erholungsurlaub auf Sylt verunglückte Alexandra an einer unübersichtlichen Kreuzung im schleswig-holsteinischen Tellingstedt. Mit ihr starb die Mutter. Der sechsjährige Sohn überlebte leicht verletzt.

Um diesen Tod ranken sich nach wie vor Legenden, es wird spekuliert, man mutmaßt. So soll der Wagen, ein Mercedes 220 S Coupé, Baujahr um 1958, manipuliert worden sein. Alexandra habe aus der Welt geschafft werden sollen, der KGB sei an dieser Verschwörung beteiligt gewesen. Oder aber Alexandra habe unter dem Einfluß von Drogen, jedenfalls von Medikamenten, am Steuer gesessen. Habe aus freien Stücken sterben wollen. Wozu aber dann die Mutter und den Sohn mit in den Tod reißen wollen? Genug, genug.

In ihren Melodien, auch in deren Texten, lebt sie weiter. Alexandra, die sich dem Chanson, jedenfalls dem chansonartigen Schlager verschrieben und auch hebräisch, spanisch, russisch, englisch, französisch gesungen hatte, wurde, wie Thommi Herrwerth schreibt, „unisono als das weibliche Pendant zu Udo Jürgens gefeiert“. Ihre „unverwechselbare dunkle und kehlige Stimme und ihre melancholischen Songs wurden von vielen Fans glühend geliebt. Besonders ‚Zigeunerjunge‘, ‚Sehnsucht‘ und ‚Mein Freund der Baum‘ erfreuten sich großer Beliebtheit.“ Mit ihrem (auch postumen) Erfolg trug Alexandra, ebenso wie Udo Jürgens, entscheidend dazu bei, daß 1970 erstmals die Langspielplatten in der Käufergunst vor den 45er Singles lagen.

Ein schönes Bild ist das, von dem Mädchen, das „mit all den Kindersorgen“ zu dem (Laub-)Baum – eine Kastanie vielleicht, eine Linde – kommt. Fließen gar Tränen, dann streichst  d u, alter Freund, „mit deinen grünen Blättern / mir übers Haar“. Adieu, Kummer, ciao, ihr Sorgen. Das Mädchen fühlt sich, wie denn auch anders, geborgen. Wie groß die Trauer der Kleinen angesichts des im frühen Morgenrot gefallenen Freundes („The horror! The horror!“, wie es bei Joseph Conrad heißt) gewesen sein muß – wir können es nicht ermessen. Wir werden es nie ermessen können. Grau zieht der Nebel …

NB: In seiner Alexandra geltenden Biographie, Liedtexte inklusive, beleuchtet Marc Boettcher Die Legende einer Sängerin. Eine CD mit zwölf Chansons und einem Gespräch aus dem Sommer 1968 liegt bei. Erschienen ist sie 2004 in Berlin bei Parthas. Bei Rütten & Loening hat Thommi Herrwerth unter dem Titel Katzeklo & Caprifischer 1998 Die deutschen Hits aus 50 Jahren untersucht. Ebenfalls veröffentlicht in Berlin.