Für Gustl, zu seinem heutigen Hundertzweiundfünfzigsten
Von Musicouskuß
SPURENSUCHE Natürlich ist er auch in Bayreuth gewesen, aber bei Gustav Mahler ist von Franken weit mehr noch zu finden, und in Franken von Gustav Mahler, als ein Grüner Hügel oder zwei.
Für A., für B., für C., not necessarily in that order, für Gudrun, und längst auch für Lisa, the love of my life, avant tout aber für meinen Onkel (1926 – 1991), lange schon tot, in memoriam, dem ich weit mehr verdanke als die – relative – Vertrautheit mit Mahler, die Bekanntschaft mit der Fünften, mit Georg Solti und Adolph Herseth, die Liebe zum Gedicht, zu Flora und Fauna
Endlich fortissimo!
– Gustav Mahler, on seeing and hearing Niagara Falls
Da sind wir nun ein bißchen auch im Fichtelgebirge herumgewandert“, schreibt der „eben von Bayreuth“ nach Iglau zurückgekehrte Gustav Mahler im Juli 1883 an seinen Freund Fritz Löhr. Im Festspielhaus hatte Mahler erstmals den „Parsifal“ erlebt, war so tief beeindruckt davon, dass er „keines Wortes fähig“ gewesen. Doch war es nicht allein Wagner, der den Ohren- und Lesemenschen Mahler nach Oberfranken gezogen hatte, denn „wir sind auch nach Wunsiedel gekommen“ – in den Geburtsort seines ihm lebenslang liebsten Autoren, Jean Paul.
Ein Jean-Paul-Ton läßt sich Mahlers (oft „in aller Eile“ hingeworfenen) Briefen attestieren, schwärmerisch, exaltiert, zerrissen wie sie sind, Anklänge an Schoppe-Zynismus und Walt-und-Wult-Stimmung, an die „Flegeljahre“ also, an den „Titan“, und dieser Ton lässt sich auch in den „Liedern eines fahrenden Gesellen“ finden, nach eigenen, der (nicht zeitlebens) Liebsten, Johanna Richter, zugedachten Gedichten.
Bereits mit seiner Ersten weitet Mahler die Symphonie ins Epische, macht daraus, wie Kurt Blaukopf schreibt, einen „instrumentalen Roman“ und gibt ihr, der in Leipzig erdachten, in Budapest 1889 uraufgeführten „Tondichtung in Symphonieform“, als er sie vier Jahre später in Hamburg ansetzt, den programmatischen, alsbald wieder widerrufenen, Titel „Titan“ mit auf den Weg. So geheißen nach Jean Pauls Roman eben. Zudem evoziert der erste, „Blumen-, Frucht- und Dornstücke“ genannte Teil den „Siebenkäs“, der ursprüngliche zweite Satz („Blumine“) Jean Pauls „Herbst-Blumine“.
Ein Trompetensolo aus der „Blumine“ (legato, Sechsachteltakt, auftaktige, aufsteigende Quarte) stammt aus der verlorengegangenen, für einen Zyklus sieben lebender Bilder aus dem „Trompeter von Säkkingen“ in Kassel „Hals über Kopf“ komponierten Begleitmusik des „Herrn Musikdirektor Mahler“. Das zugrundeliegende Versepos – und hier kommt eine weitere mit Franken verbundene Figur ins Spiel – hat Joseph Viktor von Scheffel sich ausgedacht. Freilich geht die Musik, wie der keine zwei Dutzend Jahre alte Mahler, wiederum an Löhr, in fast jugendlicher Zuversicht festhält, „weit über den Dichter“ (auch des Franken-Liedes) hinaus.
Eine kurze Volte noch: „Zu Deiner Jean-Paul Lektüre gratulire ich – es ist harte Kost, wol dem, der es verdauen kann“, lässt Gustav im August 1891 die geliebte Schwester Justine wissen. Jean Paul, dessen Humor und Ironie (nicht nur aus der „Vorschule der Ästhetik“) sich bei Mahler ein ums andere Mal findet, auch im Eröffnungssatz der Vierten.
Und seinem „liebsten Luxerl!“, seiner „Geliebten! Guten Morgen!“, „meinem Almscherl“, „meinem Almschili“ gegenüber, der später, im Zug von Amsterdam über Köln nach Wien, schlicht als „L. A-li!“ apostrophierten, noch später, nämlich aus Toblach, im letzten August, mithin 1910, als sie ihn mit Gropius hintergeht, als „Holdeste!“, „Liebste!“, „Mein Liebling“, „Mein Saitenspiel“, gar „Mein Lebensathem“, „Mein Almschilitzilitzilitzi“ angerufene Alma, geborene Schindler, verheiratete Mahler-Gropius-Werfel, vor „Mein Lieb!“ also bekennt „Dich vielmals abbusselnd Dein Gustav“, dass ihm die Bücher leider schon ausgingen und, „da ich es nicht so machen kann wie Quintus Fixlein, der sich seine Bibliothek nach und nach selbst geschrieben“ (hier allerdings irrt Mahler, er meint das „Vergnügte Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal“), müsse er, Mahler, sich „irgend etwas kaufen“, sobald er nach Klagenfurt komme.
„Las sehr viel : Jean Paul.“ Dieses Bekenntnis klingt nach Mahler, steht aber – bei Hans Wollschläger. In jungen Jahren hat sich Wollschläger mit dem Gedanken getragen, die fragmentarische Zehnte auszuarbeiten, es dann beim Gedanken belassen. In Wollschlägers Essays aber tauchen der Komponist der ihm „größten Musik überhaupt“ und eben diese Musik wieder und wieder auf. Sie in und aus den Partituren zu lesen, ist Wollschläger, der sich mit seinem Idol Todestag und Todesstunde teilen sollte (wenn man bedenkt, daß es 1911, anders als 2007, keine Sommerzeit gab), das „größte Lese-Erlebnis meines Lebens“ gewesen.
Den Dirigenten wirft er 1989 vor, „nicht mehr genügend zum Lesen“ zu kommen, zur „Versenkung ins Studium des Textes“. Namen will Wollschläger, dem man nicht nur beim Gustav-Mahler-Dirigentenwettbewerb im Bamberger Joseph-Keilberth-Saal begegnen konnte, keine nennen, will niemanden „an den Pranger stellen (auf dem es dann auch binnen kurzer Zeit ein großes Gedränge gäbe)“. Auch an dem, was die „sich so nennende ‚Musikwissenschaft‘“ zu Mahler zu sagen hatte, fand Hans Wollschläger kaum Gefallen. Hermann Danuser, einer Koryphäe des Fachs, deren Sachkenntnis und Liebe zum Gegenstand der streitbare Bamberg-Dörfliser anerkennt, bescheinigt er doch eine Stimme, die „nicht mehr ganz bei Trost sein kann“, deren „abstraktes Belehr-Geschwätz“ nur „dummes Zeug im Stehkragen“ hervorzubringen wisse.
Die eigene Stimme, sein musiksprachliches Idiom, hat Wollschläger aus Mahler selbst gewonnen und im Polyphonen der „Herzgewächse“, jener „Fragmentarischen Biographik in unzufälligen Makulaturblättern“, 1982 zum Klingen gebracht. Tonfolgen, Tempo- und Vortragsbezeichnungen, der „blaß schneidende Tanzton der Holzbläser“ (in den Wunderhorn-Liedern), die „Aufführung der Sechsten unter Horenstein“, Mädchenaugen, die „braun wie ein Celloton“ sind, Anklänge an die Zehnte, die Neunte, den „Großen Pan“ und die „Erzählende Liebe“ der dem Himmel nahen Dritten Symphonie machen daraus, wie die unterschiedlichen Schriftgrade und -typen, ein Buch, das sich – auch – hören lässt, selbst wenn dazu ein „Gedankengang durch den Hain – auf Hoffmanns Weg, bis zur Buger Spitze“ nicht ausreichen dürfte.
Apropos ETA: Die Zahl der Zeitgenossen Mahlers, die ihn mit Hoffmann oder einer von dessen Figuren verglichen, ist Legion. Bruno Walter etwa spricht von einer „fanatisch-dämonischen Natur aus der E. Th. A. Hoffmannschen Sphäre“, erkennt in Mahlers kleiner, mageren Gestalt, der steilen Stirn, den bedeutenden Augen eine „einschüchternde Inkarnation des Kapellmeisters Kreisler“.
Natürlich kannte Mahler (nicht nur) den Kreisler aus dem „Kater Murr“, natürlich empfahl, als sie sich kennenlernten, Gustav seiner „liebsten Freundin“ Alma, den „Rath Krespel“ zu lesen, natürlich war diese damals, im Winter 1901, gerade damit beschäftigt, „Die Bergwerke von Falun“ in Musik zu setzen.
Hoffmanns Einfluß geht bis in Mahlers Verständnis von Musik als Naturlaut, von Musik als Metaphysik, offenbart sich im Hamburger Titel (Oktober 1893) „Todtenmarsch in Callot’s Manier“ für das „Feierlich und gemessen“ des (heute) dritten Satzes der Ersten, eine Allusion auf Hoffmanns „Fantasiestücke in Callot’s Manier“, in den beiden Nachtmusiken der Siebten. Symphonie.
Und Friedrich Rückert? Und Albrecht Dürer (dessen „Melencolia“ in Mahlers Arbeitszimmer hing)? Peter Horst Neumann, der sich, darin Wollschläger ähnlich, essayistisch und literarisch-lyrisch mit Mahler auseinandergesetzt hat? Wenigstens Jakob Wassermann wollen wir noch, den Fürther, ins fränkische Feld führen. Im Protagonisten des „Gänsemännchen“ (1915) sind Züge Gustav Mahlers ausgemacht worden. Und als man ihn 1907 (mehr oder minder) dazu nötigt, vom Amt des Wiener Hofoperndirektors zurückzutreten, danken Mahler wenigstens drei Dutzend Freunde, „die wissen, was wir an Ihnen haben und haben werden“, in einer Adresse. Zu den Unterzeichnern zählt, neben Klimt, neben Freud, neben Schönberg, Schnitzler und Stefan Zweig, auch: Jakob Wassermann.
Fürs Ohr:
- Das Lied von der Erde (Dietrich Fischer-Dieskau, der sich, wie Wollschläger, den Todestag mit Mahler teilen sollte, Fritz Wunderlich, Joseph Keilberth, Bamberger Symphoniker, 1964)
- I. Symphonie D-Dur (Jonathan Nott, Bamberger Symphoniker, 2005)
- III. Symphonie d-Moll (Anna Larsson, Abbado, Lucerne Festival Orchestra, 2007; Kai Frömbgen, Solo-Oboe, Ulrich Biersack, Piccolo)
Für den Geist und fürs Auge:
- Jens Malte Fischer, Gustav Mahler. Der fremde Vertraute (2003; 2010)
- Arnoldo Liberman, Gustav Mahler. Annäherung in vier Sätzen (1992)
- Hans Wollschläger, Der Andere Stoff. Fragmente zu Gustav Mahler (2010)
- Guy Wagner, Die Heimkehr. Vom Sterben und Leben des Gustav Mahler (2011)
Für den Gaumen:
- Marillenknödel (Mahlers Leibspeise)