Shareholder-Value oder Nächstenliebe?

Werner Schwarzanger

Heiner Geißler: Kann man noch Christ sein, wenn man an Gott zweifeln muss?

Nur als Mensch, nicht als Politiker“ eröffnet der ehemalige Sozial- und Gesundheitsminister sowie Generalsekretär der CDU in seinem neuen Buch eine Frage, die es in sich hat: Bleibt Christsein selbst in dem Fall noch möglich, dass es einen gütigen Gott nicht gibt

Schier verzweifelnd an der uralten Frage, wie Gott angesichts all des Leidens in dieser Welt zu rechtfertigen sei, habe sich ihm, bekennt Heiner Geißler, die Theodizee als unmöglich erwiesen. Wieso lässt Gott zu, dass in jeder Minute auf Erden „Millionen Kinder misshandelt, Zehntausende Menschen gefoltert, Hundertausende Frauen vergewaltigt und unzählige Menschen umgebracht werden?“ Wieso greift er nicht ein? Ist er so ohnmächtig, dass er schon möchte, aber nicht kann? Oder so missgünstig, dass er zwar könnte, aber nicht will? Diese seit Epikur und Lactantius offenen Fragen erweisen sich zumal angesichts des globalen Klima- und Umweltdesasters als unbeantwortbar. Und das prädestinatorische Bild, das man sich in beiden Konfessionen von Gott gemacht hat, kann den Zweifel an einem guten Gott nur verschärfen.

Für Paulus kann Gott als der Töpfer beseelter Erdlinge mit seinen Tonfiguren machen, was er will. Den Calvinismus vorbereitend versichert sein Römerbrief, dass Gott sich erbarmt, „wessen er will, und verstockt, wen er will“. Verstockt, wen er will? Wenn ihm also gerade danach ist, „verstockt“ er einen Erdling einfach so? Würde der grundlos Verstocktgemachte sich zu fragen erdreisten: Wieso tust du mir das an? – hallte ihm höhnisch entgegen: „Wer bist du denn, dass du mit Gott rechten willst?“ Und Luther stimmt bei: Wir „armen, erbärmlichen, verderbten Geschöpfe“ haben über unseren Schöpfer nicht zu rechten, sondern zu parieren. Demnach aber ist der Mensch gerade kein zu sich selbst freies Wesen! Und aus einem a priori so oder so unzurechnungsfähig determinierten Geschöpf kann das Böse nicht stammen, das die freie Wahl voraussetzt. Woher aber dann?

Für Luther ist es selbstverständlich, dass außer dem Teufel einzig Gott auch der Absender der Übel ist. Als 1527 in Wittenberg die Pest ausbricht, hält er sie für eine von Gott geschickte Züchtigung. Und dieser so gesehene Gott hat also ihm ebenbildliche Personen erschaffen, nur um diese noch ganz arglosen Geschöpfe, als sie von Gut und Böse ganz kindlich noch nichts wissen, nach dem erstbesten Gebotsbruch sofort mit einer „Erbsünde“ vergiftet ins Elend zu verstoßen? Auch durch die Erlösung von dieser „Erbsünde“ durch den Sühnetod seines dafür menschgewordenen Sohnes ändert sich für Luther ebenso wie für Augustinus nichts wirklich: Auch „erlöst“ bleibt das Menschengeschlecht für Augustinus eine „elende Sündenmasse“ und der Einzelne „ein einziger Klumpen Dreck“. Daher liegt es auch für Luther nicht am Schöpfer, dass wir ihn in seinen „unzähligen Wohltaten nicht erkennen“, „sondern an uns; denn die menschliche Natur ist durch die Erbsünde so verdorben und vergiftet“, dass wir „die hohen Dinge“ nimmermehr verstehen können, sondern blind zu glauben und zu befolgen haben. Nur durch die Gnade Gottes kann der nach wie vor gefallene Mensch von seiner Erbsündenverderbnis wieder freikommen.

Mit dieser „Rechtfertigungslehre“ bleibt für Heiner Geißler das bisherige Christentum ein Täuschungsmanöver, „zu dem die Theologen das Drehbuch geschrieben haben“. Vor dieser in den dogmatischen Kern beider Kirchen festgeschriebenen „wahren Häresie“, die eine „schwere Verletzung und Beleidigung der menschlichen Würde“ bleibt, gelte es Jesus endlich zu retten. Der nämlich, glaubt Geißler, wäre heute der Erste, der dieser Häresie widersprechen würde: „Ihr seid nicht ein Klumpen Sündendreck, sondern in eurer Würde unantastbar!“ Mit dieser allererst frohen Botschaft ermöglichte er allen Menschen, auch dann aufrecht durchs Leben zu gehen, wenn sie nach menschlichen Maßstäben gescheitert und ins „Prekariat“ abgestürzt sind. Denn die Menschen, würde er Sokrates widersprechen, sind mehr als die Frösche, die die Oberfläche ihres Teiches für wunder was für einen Himmel halten! Spiegelt die Tatsache, dass sie „überhaupt ein Bewusstsein von Transzendenz“ haben, wie trüb auch immer nicht zuletzt doch eine Wirklichkeit, die unser diesseitiges Fassungsvermögen jenseitig übersteigt? Dass von den rund 7,5 Milliarden Menschen, die derzeit die Erde bevölkern, lediglich 1,3 Milliarden agnostische oder atheistische Ungläubige sind, beweist das nicht geradezu, dass die durch keine noch so richtige Aufklärung der irdischen Evolution auflösbare religio den Menschen als solchen mit ausmacht?

Ein Atom hat 99 Prozent seiner Masse in seinem Kern. Wie, wenn wir unsere Menschwerdung noch zu 99 Prozent tief in uns verborgen hätten? Wenn diesen noch fast ganz utopischen Kern des eigentlich Menschlichen zu entfalten Sinn und Auftrag unseres Erdenlebens bliebe? Religiös sein hieße dann diesem fast vergessenen Auftrag sich offen zu halten. Jetzt, wo die von Misanthropen wie Harari oder Sloterdijk zynisch moderierte „kapitalistische Welt des ,Shareholder-Value‘, der Investment-Banker, einer gigantischen Finanzindustrie mit ihren gesellschaftlichen Leitbildern Egoismus, Gier, Geiz, Erfolg, Dividende, Konsum, Rang und Titel“ ihren tödlichen Neoliberalismus zu verabsolutieren droht, erinnert Heiner Geißlers erstaunliches und kühnes Büchlein daran, dass Jesus immerhin „die größte Volksbewegung der Weltgeschichte in Gang gebracht“ hat, die mit ihrem auf den grenzenlosen Füreinanderbund aller Menschen auf dieser Erde angelegten Grundgebot der Nächstenliebe noch immer das Zeug hätte, den tenebrösen Irrstern der ökonomistisch geschundenen Erde in eine halbwegs heile und gerechte Welt zu verwandeln. Geißler ist davon überzeugt, dass allein schon die Sehnsucht nach dieser menschenmöglichen Welt „reicht, um Christ zu sein“.

In dieser freien Sicht schlummert nichts Geringeres als der erste Schritt zur eigentlichen Reformation, die kommen muss, wenn das Christentum nicht an seiner bisherigen Falschheit zugrundegehen will. Wem es damit ernst ist, sollte dieses Buch lesen.

Heiner Geißler
Kann man noch Christ sein, wenn man an Gott zweifeln muss?
Ullstein-Streitschrift
Taschenbuch, 80 Seiten
ISBN 978-3-550-05006-0
Preis: € 7,00