Der Überlebende
Jeden Tag
Denke ich ans Sterben.
An Krankheit, Hunger,
Gewalt, Terrorismus, Krieg,
den Weltuntergang.
Das hilft,
mich abzulenken.
Roger McGough (aus dem Englischen von Andrea Paluch und Robert Habeck)
Von Chrysostomos
Als sein Wunderjahr, als sein „Annus Mirabilis“, feiert Philip Larkin in einem seiner bekanntesten Gedichte das Jahr 1963. Zwischen dem Ende des Lady-Chatterley-Verbotes und dem Erscheinen der ersten Beatles-LP habe er, schreibt Larkin oder doch sein Alter ego, die Sexualität für sich entdeckt. Das nun war in der Tat relativ spät, wenn wir das Gedicht für bare Münze nehmen wollen und die Aussage nicht der poetischen Lizenz geschuldet ist: Larkin ist, in Coventry, dessen Kathedrale die Deutschen zerbombten – Benjamin Britten, der kommende Woche seinen Hundertsten feiert (Peter Härtling gestern seinen Achtzigsten; herzlichen Glückwunsch, nachträglich, nach Walldorf-Mörfelden), hat 1962 darüber das „War Requiem“ komponiert – 1922 (auch so ein Wunderjahr, so ein Annus mirabilis, das nämlich der modernen Literatur) geboren und im ganz frühen Dezember 1985 in Hull, wo er lange Jahre als Universitätsbibliothekar wirkte, gestorben:
Sexual intercourse began
In nineteen sixty-three
(Which was rather late for me) –
Between the end of the Chatterley ban
And the Beatles’ first LP.
Die Musik der vier Pilzköpfe aus Liverpool beschrieb Larkin, der vor allem dem Jazz zugetan war und darüber viele Kritiken verfasste, als eine „bezaubernde und berauschende Mischung von schwarzem Rock’n’Roll und ihrer eigenen adoleszenten Romantik“. Er erkannte in ihr die „erste Weiterentwicklung populärer Musik seit dem Krieg“. „Love Me Do“, „PS I Love You“, „She Loves You“ (die Melodie ist pentatonisch gehalten), „Can’t Buy Me Love“ (Blues trifft auf Rock’n’Roll), „Do You Want to Know a Secret“ (Chromatik), „Please Please Me“, „I Want to Hold Your Hand“ (ja ja, wer wollte das nicht, Händchen halten, und dabei vielleicht Lady Chatterley lesen, endlich; sogar Larkin war danach, 1963), so hießen die ersten großen Erfolge der Beatles, die sie auch auf Tourneen vorstellten und die im Oktober 1963 zu dem Phänomen der „Beatlemania“ führten, als junge Leute zu schreien begannen, weinten oder in Hysterie verfielen, sobald sie der Gruppe auch nur ansichtig wurden.
Einige ihrer Texte, „Penny Lane“ etwa, auch „She’s Leaving Home“, „Fool on the Hill“ und „Eleanor Rigby“, haben den Beifall von Literaturwissenschaftlern und Eingang in Anthologien (Zeugma) gefunden. Die Beatles hatten großen Einfluß auf die „Underground Poetry“ eines Adrian Mitchell, eines Jeff Nuttall, eines Michael Horovitz, und auf die sogenannten „Liverpool Poets“. Die Gedichte von Adrian Henri (Jahrgang 1932; auch Maler und, von 1967 bis 1970, Mitglied der Rockgruppe „Liverpool Scene“), Brian Patten (Jahrgang 1946) und Roger McGough (geboren 1937 in Liverpool) sind anti-akademisch, kommen aus dem Untergrund, sind sozialkritisch, gegen das Establishment gerichtet, sind für den mündlichen Vortrag – häufig mit musikalischer Begleitung – bestimmt statt für das stille Lesen. Ihre oft gemeinsamen Lesungen fanden großen Zuspruch beim Publikum, während ihnen von offizieller Seite, beispielsweise von der Oxford University Press, noch immer literarisches Vermögen abgesprochen wird. Man höre hierzu etwa Martin Seymour-Smith’ Äußerung im von Ian Hamilton edierten Oxford Companion to Twentieth-Century Poetry in English: „None of the poets concerned developed a literary technique.“
Ganz so harsch sehe ich das nicht. Und populär waren sie ohnehin, McGough & Co.: die Penguin-Anthologie The Mersey Sound (1967) war ein Verkaufsschlager. Brian Patten umarmte die Massen als „rightful owners of the song“, als „rechtmäßig Besitzer des Liedes“. Und die Massen gaben ihm und seinen Mitstreitern, zumindest in den Sechzigern und frühen Siebzigern, Recht. In einer zweisprachigen Ausgabe sind Gedichte von Roger McGough greifbar in Tigerträume (Heidelberg, 1997) und, ebenfalls zweisprachig, in Auswahl im dritten Band der Sammlung Englische und amerikanische Dichtung, den Horst Meller und Klaus Reichert herausgegeben haben (Von R. Browning bis Heaney, München: C. H. Beck, 2000). Die Übersetzung stammt in beiden Fällen von Andrea Paluch und Robert Habeck.
Hier noch McGough im Original:
Survivor
Everyday
I think about Dying.
about disease, starvation,
violence, terrorism, war,
the end of the world.
It helps
keep my mind off things.
NB: Und eine Zugabe –
Fluch
Zyanid im Wald
Tote Fische im Meer
Wo die Sonne sein soll
Ein geladnes Gewehr
Sollen die uns verkauften
Den Fluß hinunter
Genau so dreckig
Wie ihr Geflunker
Ihre Banknoten finden
Karzinogen
Und ihr Gold
Radioaktiv.
Curse
Cyanide in the forest
Dead fish in the sea
A loaded gun
Where the sun should be
May those who sold us
Down the river
As polluted
As the lies they told
Find their banknotes
Carciogenetic
Nuclear active
Their gold.