Der verlorne Wein
Einmal hab ich (ich weiß nicht mehr unter
welchen Himmeln), als Opferung
an das Nichts, in das Weltmeer hinunter
Wein geschleudert in einem Schwung …
Wer verlangte deinen Verlust,
Tropfen? Hieß es ein Seher gut?
Oder hat nur mein Herz so gemußt,
meint ich, den Wein vergießend, Blut?
Gleich und schon wieder wie immer
klärte durchscheinender Schimmer
vor mir das Meer, drin es rötlich verrinnt …
Weg der Wein, doch die Wellen sind trunken! …
Und da sah ich den herberen Wind
von Gestalten der Tiefe durchwunken …
Paul Valéry (aus dem Französischen übertragen von Rainer Maria Rilke)
Von Chrysostomos
Der Herbst, das ist die Zeit der Herbstlese (in der Bamberger Buchhandlung Collibri), aber auch, versteht sich, der Lese des Weines. Der Wein, der gute Tropfen, den Paul Valéry/Rainer Maria Rilke wegschleudern, vergießen, ist gelesen worden vor dem 7. Dezember 1922 (zwischen dem 7. und dem 19. Dezember hat Rilke das Sonett „Le vin perdu“ übersetzt), streng genommen, denn er wurde ja aus französischen Trauben gewonnen, vor dem Juni 1922, als Paul Valérys Band Charmes in den Editions de la Nouvelle Revue Française herausgekommen ist. Was allerdings keinen großen Unterschied macht, denn sommers wird ja kein Wein gelesen. Es dürfte sich also bei diesem „vin précieux“, wie es bei Valéry präzisierend heißt, bei diesem kostbaren Wein um einen guten Tropfen frühestens des Jahrgangs 1921 handeln.
Das Französische war Rilke, wie er am 3. Mai 1926 an Marina Zwetajewa (1892 bis, durch Suizid in Jelabuga, 1941), die sowjetrussische, an Goethe und Hölderlin, an Puschkin und Rimbaud – der für Rilke, anders als für die Expressionisten und eben für Zwetajewa, weiter nicht von Bedeutung war – und Rilke geschulte Lyrikerin, die von 1922 an in der Emigration lebte, erst in Rilkes Prag, dann, von 1925 an, in Rilkes Paris, schrieb, „ebenso vertraut wie Deutsch“. Tatsächlich war es so, daß Rilke, gebürtiger Prager des Jahrgangs 1875 – und gestorben 1926 in Val-Mont bei Montreux, in der Suisse-Romande – in einem polyglotten Ambiente aufgewachsen ist. Ja, Rilkes Muttersprache war Deutsch (freilich in seiner Prager Ausprägung), doch redete die Mutter für gewöhnlich Französisch mit ihm und rief ihn auch nicht Rainer, sondern René. Sie brachte ihm die Sprache bei und stellte Hausangestellte ein, die Französisch sprachen.
Rilke hat allein vier französischsprachige Gedichtsammlungen publiziert. Die sechsundsiebzig Gedichte der Vergers („Obst-“ oder „Nutzgärten“) sind zwischen Januar 1924 und Mai 1925 entstanden. Von August bis September 1924 schrieb er weiters sechsunddreißig Poeme, die sich in Les Quatrains Valaisans finden. Sie haben ihren Ursprung im Erlebnis der Walliser Landschaft und sind auf Schloß Muzot zu Papier gebracht worden. Von den zwei Dutzend Gedichten in Les Roses ist der Großteil zwischen dem 7. und dem 16. September 1924 geschaffen worden, die zehn in Les Fenêtres versammelten zwischen Anfang April und dem 10. Juli 1926, in Rilkes Todesjahr. Zudem hat er russische und italienische Verse geschrieben.
Von den 1890er Jahre an bis kurz vor seinem Tode hat Rilke fleißig übersetzt: insgesamt Texte von sechsundfünfzig Autoren, aus acht Sprachen (dazu noch eine Handvoll deutscher Texte ins Französische). Aus dem Mittelhochdeutschen (einen Autor), aus dem Flämischen (einen), aus dem Lateinischen (zwei Autoren), dem Dänischen (zwei) und Englischen (Shakespeare, und, 1908, die Sonette nach dem Portugiesischen von Elizabeth Barrett-Browning), dem Schwedischen, dem Russischen, vor allem aber aus dem Italienischen (neunzehn Autoren, darunter Michelangelo, Dante, Petrarca, Gaspara Stampa, D’Annunzio und Leopardi) und Französischen (gleichfalls neunzehn: André Gide etwa und eben Paul Valéry, der neben Baudelaire, Maurice Maeterlinck und Francis Jammes – nachzulesen ist das in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge von 1910 – maßgebend war für Rilkes eigene Poetik). Wer nun nach der „Werktreue“ all dieser Übertragungen fragt, der möge bitte bedenken, daß es Rilke dabei vor allem darum ging, seine eigenen Ausdrucksmöglichkeiten an nahverwandten wie auch an gänzlich fremden Texten zu schulen und zu erweitern.
Mit dem um vier Jahre älteren Paul Valéry verband Rilke eine enge Freundschaft. Zu einem letzten Zusammentreffen der beiden kam es – eine Woche zuvor war die Doppelnummer der Cahiers du Mois erschienen, Reconnaissance à Rilke, zu welcher Valéry eine elegante Einleitung beigesteuert hatte – als Partner bei der intimen Arbeit des Übersetzens am 13. September 1926 in Anthy bei Thouon am französischen Ufer des Genfer Sees. „Es war“, ließ Rilke Nanny Wunderly-Volkant in einem Brief vom 17. September wissen, „auserlesen und von unvergleichlichem Wert für unsere Freundschaft.“ Oder, wie es in Rilkes französischem Original leise lautet: „C’était exquis et d’une incomparable valeur amicable.“
Unter großen Bäumen fanden, wie sich Valéry erinnerte, lange Gespräche über die Übersetzung seines Narcisse statt. Das teilte der Franzose in den Tagen nach Rilkes Tod Max Richner mit, der es in der Neuen Züricher Zeitung vom 16. Januar 1927 deutsch veröffentlichte: „Wir begleiteten Rilke an den Landungssteg [von wo dieser auf die Schweizer Seite des Genfer Sees zurückkehren wollte]. Man sah, wie sein Lächeln sich verlor; ein wenig Rauch und – Adieu!“
Im Nachwort zu der zweisprachigen Ausgabe der Gedichte von Paul Valéry (Suhrkamp, 1988) schreibt Karl Krolow: „Das Lesen der Gedichte Paul Valérys war für Rilke eines jener für das eigene Weiterschreiben wichtigen Erlebnisse, vielleicht das letzte seiner Art, das von solcher Tragweite war. Nie zuvor hatte Rainer Maria Rilke sich dem intelligiblen Bereich von vergleichbarem Niveau ähnlich genähert und ihn – in den Übersetzungen – dann einbezogen und für sich folgenreich gemacht.“ Der Lohn der Sonette an Orpheus (1923), schließt Krolow, habe für Rilke Valérys Warten auf die Überraschung vollendet.
NB: Auch der französischen Kunst, französischen Künstlern war Rilke verbunden (der deutschen, der Worpsweder Schule um Paula Modersohn-Becker, Heinrich Vogeler und die Bildhauerin Clara Westhoff, die er im April 1901 ehelichte, ja sowieso), beispielsweise als Sekretär von Auguste Rodin, über den er 1903 eine Monographie vorlegte. Aus Dresden schreibt Rilke im Oktober 1913 an seinen Verleger Anton Kippenberg: „Ich sehe eben im Schaufenster der Tittmann’schen Buchhandlung den Rodin, er sieht herrlich aus.“ Im großen Format war die Studie 1913 im Insel-Verlag mit „96 Vollbildern“ erschienen.
NBB: Die Literatur zu Rilke ist lange schon kaum mehr zu überblicken. Als Ausgangspunkt für eine eingehendere Beschäftigung, einen Rilke-Trip, bietet sich beispielsweise das von Manfred Engel edierte Rilke–Handbuch an (Stuttgart: Metzler, 2004). Dann ist da noch der von Ingeborg Schnack 1975 erstmals vorgelegte Band Rainer Maria Rilke. Chronik seines Lebens und seines Werkes 1875 – 1926, der in einer erweiterten Neuausgabe, von Renate Scharffenberg besorgt, in Frankfurt am Main bei Insel 2009 herausgekommen ist. Da ist, oft wirklich Tag für Tag, vermerkt, was Rilke wann und wo und mit wem machte, woran er arbeitete, wohin er reiste, wen er traf, welche Musik er hörte. Superb! Ein Adjektiv, das sich ohne Vorbehalt auch auf Ralph Freedmans Biographie Life of a Poet. Rainer Maria Rilke (New York: Farrar, Straus and Giroux, 1996) anwenden ließe, die in einer zweibändigen Übersetzung von Curdin Ebneter 2002 bei Insel erschienen ist. Last but most certainly not least der Hinweis auf Rüdiger Görner. Dessen Studie – angeregt hat sie, wie so vieles, Michael Krüger – Rainer Maria Rilke. Im Herzwerk der Sprache kam 2004 in Wien bei Zsolnay heraus. Sie ist, wie alles von Görner (der sich zumal auf die Beziehungen zwischen Musik und Literatur versteht, aber bei weitem nicht nur; das war auch schon auf einem Hanns-Josef Ortheil geltenden Symposion in der Bamberger Villa Concordia zu erleben), absolut lesenswert. Man fragt sich wirklich, warum so wie Rüdiger Görner fast ausschließlich angloamerikanische Geisteswissenschaftler zu schreiben vermögen, oder eben deutschsprachige, die allerdings in London, Cambridge, Oxford, Princeton, St. Louis, Bloomington, Cornell, Columbia, Yale, Harvard, Stanford oder Berkeley leben und lehren.
NBBB: Nun hätte ich fast Valérys Original anzufügen vergessen. Und das, obgleich ich erst jetzt, gegen Mitternacht, und nachdem ich mit K., die mit Nachnamen beinahe so heißt wie die Dresdner Buchhandlung, in welcher Rilke 1913 seinen Rodin sah (gerade deshalb war die Freude über diesen heutigen Bibliotheksfund so groß), in Tosca war, mir einen Schluck Roten einschenke, einen „Sangre de Castilla“, Tinta de Toro, gelesen im Herbst 2011. Einen Spanier also; wenn das mal, jetzt gerade und gerade jetzt, angesichts Rilkes und Valérys, kein Fauxpas ist! Zwar handelte es sich bei Tosca lediglich um einen Kinobesuch im Bamberger CineStar, aber was für einen! Ich kann das nur vehement eindringlich empfehlen, sollte einem der Kopf, oder was immer auch, stehen nach einem schönen Abend à deux: Direktübertragung aus der Metropolitan Opera, in einem sehr bequemen Doppelsitz, in entspannter Atmosphäre, bei bester Tonqualität und in sehr guter Bildregie. Für Opernfreunde und Cineasten noch der Hinweis, daß am 14. Dezember – also just drei Wochen vor K.s fast rundem Geburtstag – von 19 Uhr an Verdis Falstaff übertragen werden wird (am Pult der nach einer krankheitshalber erzwungenen Auszeit von zwei Jahren auf mirakulöse Weise wieder erstarkte James Levine), und exakt eine Woche vor meinem so gut wie runden Geburtstag, also am 8. Februar, Antonín Dvořáks grandiose Rusalka (1900 komponiert; da läßt auch, man denke an die Undine, E.T.A. Hoffmann grüßen) mit der hinreißenden Renée Fleming, mit der ich gern mal zum Mond fliegen und dabei Julie London hören möchte, in der Titel- und also in einer ihrer Paraderollen. Fleming führte heute, bei Tosca, durch das Programm und in den beiden Pausen Gespräche mit dem Enseble, mit dem Chordirektor, mit dem Chef der Bühnenzimmerleute. Das famose, vor allem im Holz gut aufgestellte Orchester der Met wird dann, im Februar, geleitet werden von dem derzeitigen Chefdirigenten des Philadelphia Orchestra, dem noch immer jungen Kanadier Yannick Nézet-Séguin, der gerade in den letzten Monaten von so gut wie allen wichtigen (und vielen eher belanglosen) Blättern mit reichlich Lorbeer bedacht worden ist. Nézet-Séguin gilt längst als möglicher Nachfolger von Sir Simon Rattle bei den Berliner Philharmonikern.
NBBBB: Ach so, das Original. Voilà –
Le vin perdu
J’ai, quelque jour, dans l’Océan,
(Mais je ne sais plus sous quels cieux),
Jeté, comme offrande au néant,
Tout un peu de vin précieux …
Qui voulut ta perte, ô liqueur ?
J’obéis peut-être au devin ?
Peut-être au souci de mon cœur,
Songeant au sang, versant le vin ?
Sa transparence accoutumée
Après une rose fumée
Reprit aussi pure la mer …
Perdu ce vin, ivres les ondes! …
J’ai vo bondir dans l’air amer
Les figures les plus profondes …
Paul Valéry