Heute soll uns eine „Bouillabaisse“ munden. Anne Dorn tischt auf, und Chrysostomos wünscht bon appetit.

Bouillabaisse

Der kleine Augenblick, den ich so liebe,
im ‚Terminal‘ am Gare du Nord,
wenn ich bin, wer ich sein möchte:
Man zieht mir den Tisch beiseite,
rückt mir den Stuhl. Mir benachbart
ein Mensch, der Austern schlürft,
gedankenverloren.
Auch mir die weiße Serviette
aus Leinen über das Kleid. Und
Bouillabaisse, dieses Gemisch aus Meer
und Blütenstaub. Keinen Wein,
aber das edle Wasser. Räkeln
unter den Augen des maître d’hotel,
der Obacht hat, auf mich,
wie sonst niemand.
Das Messinggestänge voll Glanz,
die Schritte gedämpft, Buchara, rot.
Und alle, ausnahmslos alle,
weltverloren
kurz vor der Abfahrt,
gekommen woher denn,
und unterwegs nun, wohin?
Dieser Augenblick zwischen den Zügen,
voll schmackhaft bitterer Süße
des Safrans: „Bouillabaisse!“

Anne Dorn

Von Chrysostomos

Ein weiteres Exempel aus der Endlosreihe der Bahnhofs-und-Zug-Gedichte, diesmal aus der Feder von Anne Dorn, geboren am 26. November 1925 nicht in der Wachau, sondern in Wachau, also bei Dresden, als Anna Christa Schlegel. (Von einem hier womöglich angebrachten Exkurs zu den Schlegels, zu Johann Elias, Johann Adolf, zu August Wilhelm, Friedrich und Dorothea Schlegel sehe ich ab; nur der Hinweis, daß Dorothea, wie Peter Handke, The Winter’s Tale übertragen und daß der Würzburger Claas Huitzing, ehemals Stipendiat des Internationalen Künstlerhauses Villa Concordia, über Dorothea und ihre Amouren einen feinen Roman geschrieben hat.)

Und auch die „weiße Serviette / aus Leinen“ schließt wunderbar an Eva Corinos gestern vorgestelltes „Erstes Mal“ an, sowie der Bezug zu Frankreich, zu Paris. Der Gare du Nord ist einer von sechs Pariser Endbahnhöfen der Societé National de Chemin de Fer. Mit etwa 190 Millionen Passagieren im Jahr ist er der meistfrequentierte Bahnhof in ganz Europa. Eröffnet wurde der Gare du Nord im Juni 1846 (leicht zu merken: eine Dekade vor Robert Schumanns Tod). Mit dem Eurostar kann man sich aufmachen über Lille nach London, mit dem Thalys über Brüssel nach Amsterdam (also, beispielsweise, zu Christoph Buchwald, dem unermüdlichen Herausgeber des Jahrbuchs der Lyrik), oder nach Ostende, nach Essen, nach Köln, und über Namur nach Liège. Vielen französischen Filmen dient der Bahnhof als Kulisse (etwa Les Poupées Russes), und man kann ihn auch in Mr Bean’s Holiday von 2007 sehen. Außerdem erwähnt ihn Dan Brown im Da Vinci Code.

Dort also, „im ‚Terminal‘ am Gare du Nord“, sitzt das lyrische Ich, erfreut sich des Momentes, lebt, und feiert, den Augen-Blick, ist, endlich, „wer ich sein möchte“. Ein Vers übrigens, der, wie auch weiter unten „woher denn, / und unterwegs nun, wohin“, stark an Brecht erinnert, bei Dorn freilich ins Positive gewendet: „Ich bin nicht gern, wo ich herkomme. / Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre“ („Der Radwechsel“). Man hat Obacht auf das lyrische Ich, macht ihm vielleicht sogar schöne Augen, kümmert sich, verwöhnt es: „Man zieht mir den Tisch beiseite / rückt mir den Stuhl.“ Alles ist, sogar im Bahnhofsrestaurant – wir sind schließlich in Frankreich, in Paris – edel, gepflegt, das Messing glänzt, die Schritte fallen gedämpft, dafür trägt der dicke „Buchara“ Sorge, der handgeknüpfte turkmenische Teppich mit sehr tiefem Rot als Grundfarbe („Buchara, rot“ ist mithin ein Pleonasmus, so wie gestern, bei Eva Corino, der „weiße Batist“) und einem Reihenmuster aus abgerundeten Achtecken.

Nein, kein Wein heute zur Bouillabaisse, aber immerhin „edles Wasser“, vielleicht Evian. So läßt sich der Augenblick zwischen den Zügen auskosten, mit diesem „Gemisch aus Meer / und Blütenstaub“, „voll schmackhaft bitterer Süße / des Safrans: ‚Bouillabaisse!‘“ Fester Bestandteil dieser provenzalischen Fischsuppe ist la vive, das Petermännchen, schön anzuschauen, denn der Fisch ist in orange-blauen Tönen gehalten. Man nehme – ich folge darin „Bolli’s Kitchen“, dem Rezeptvorschlag einer lange schon in Paris lebenden Kölnerin, deren Blog zu verfolgen sich wirklich lohnt – Zwiebeln, Knoblauch, Fenchel und brate diese Zutaten an. Dann Tomaten beigeben, mit Wein oder mit Muschelsud auffüllen, mit Safran (siehe Dorn!), Thymian, Lorbeer würzen und einkochen lassen.

Schließlich gibt man noch neue Kartoffeln hinzu (vielleicht Bamberger Hörnla) und läßt diese zehn Minuten mitkochen. Schließlich das Gemüse auf einem Blech verteilen, das Petermännchen darauflegen und bei 180 Grad gut zwanzig Minuten garen. Die sehr große Rückengräte des Fisches entfernen und die Filets mit der Bouillabaisse zusammen servieren. Bon appetit!

Anne Dorn hat sich an der Dresdner Kunstgewerbeakademie mit Schriftgraphik, Zeichnen und malerischem Darstellen befaßt. 1944 mußte sie als „Pflichtjahrmädchen“ ins Salzkammergut gehen. Nach dem Krieg lebte sie in Herford, war kurz mit einem Bühnenbildner verheiratet und arbeitete als Kostümbildnerin am Lippeschen Landestheater. Die zweite Ehe, geschieden 1969, ging sie mit einem Schauspieler ein. Als freie Schriftstellerin lebt sie in Köln, wo sie Dieter Wellershoff, Heinrich Böll und Lew Kopelew förderten, wo sie sich mit Mauricio Kagel anfreundete. Reisestipendien des Deutschen Akademischen Austauschdienstes führten Dorn nach Paris, nach Budapest, New York, Krakau. Rom kennt sie als Ehrengast der Villa Massimo (1985). Von ihr stammen zahlreiche Hörspiele und Funk-Features, beispielsweise Auf dem Dorfe. Studien aus der Eifel (1988, für den Hessischen Rundfunk). Außerdem hat Dorn den Roman hüben und drüben vorgelegt (Leipzig, 1991, mit einem Vorwort von Lew Kopelew), etliche Erzählungen und Gedichte (etwa in den horen und im Jahrbuch der Lyrik).

NB: „Bouillabaisse“ kann man nachlesen, neben rund hundertzwanzig weiteren Texten, die Michael Krüger und Christoph Buchwald aus 66,2 Kilogramm Gedichten (von 449 Einsendern), die die armen Postboten in München und in Amsterdam zuzustellen hatten, aussuchten, im Jahrbuch der Lyrik 2004 (München: C. H. Beck, 2003). Auch ein Jahrzehnt später ist das – noch immer von Buchwald betreute – Jahrbuch ein immer noch verläßlicher Bewegungsmelder für das, was in der deutschsprachigen (und, ab und an, auch fremdsprachigen) Lyrik sich gerade tut.