Tschau Goethe
Er stand an einer merkwürdig
gelben Wegkreuzung und
flirtete intensiv mit dem Milch-
mädchen aus Frankfurt.
Ich fuhr mit dem Fahrrad vorbei,
klingelte, auf dem Gepäckträger
saß Arno Schmidt
und rief Tschau Goethe
dieser ging
schleunig nach Hause,
zog sich aus bis aufs geblümelte Nachthemd
und schrieb weiter an seiner Welt-
literatur.
Beat Brechbühl
Von Chrysostomos
An Goethe ist, und das ist gut so, kein Vorbeikommen. Nicht, noch immer nicht, in der Schule, nicht im Studium, in Todesanzeigen begegnet er einem immer wieder, aber auch, über geläufige Zitate und Anspielungen, im Alltag. Und in hunderten und aberhunderten von Gedichten seiner Nachfolgerinnen und Nachfolger. Wie beispielsweise in obigem Exempel, das Beat Brechbühls bei Benzinger in Zürich 1977 herausgekommenem, „Rosmarie“ gewidmeten Band entnommen ist, Traumhämmer geheißen, welcher Gedichte aus zehn Jahren versammelt.
Goethe, wild flirtend mit dem „Milch- / mädchen aus Frankfurt“ (vielleicht Anna Elisabeth „Lili“ Schönemann, Tochter eines Frankfurter Bankiers, die Johann Wolfgang so bedichtete: „Sie streicht ihm mit dem Füßchen übern Rücken; / Er denkt im Paradiese zu sein. / Wie ihn alle sieben Sinne jücken! / Und sie – sieht ganz gelassen drein. / Ich küß’ ihre Schuhe, kau an den Sohlen, / Ganz sachte heb ich mich und schwinge mich verstohlen / Leis an ihr Knie […]“), Goethe, der sich aller Garderobe entledigt „bis aufs geblümelte Nachthemd“, Goethe, der dann doch wieder nur an die Arbeit denkt, der schreibt, der sich der Welt der Literatur widmet statt den Frauen, statt die Frau, statt Lili zu beglücken.
Und vom Gepäckträger grüßt Arno Schmidt, Hans Wollschlägers Mentor, Beschrifter unendlich vieler Karteikarten und Verfasser von Zettel’s Traum (hier darf, anders als bei Finnegans Wake, der Apostroph nicht fehlen), der Übersetzer von Edgar Allan Poe und der Frau in Weiß von Wilkie Collins. Die „merkwürdig / gelbe Wegkreuzung“ mag, wir wissen es nicht, von blühendem Raps herrühren. Beat Brechbühl jedenfalls hat aus dieser flüchtigen Begegnung, en passant vorbeiradelnd, hat aus diesem unerhörten Ereignis ein Gedicht gemacht.
Brechbühl, den man immerhin mit Hans Magnus Enzensberger und mit Reiner Kunze auf eine Höhe gestellt hat, ist kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in Oppligen im Kanton Bern geboren, machte eine Lehre als Schriftsetzer, arbeitete als Redakteur, war – von 1966 bis 1971 – Herstellungsleiter im Zürcher Diogenes Verlag, ist seither als freier Schriftsteller und Graphiker tätig, auch als Verleger, zunächst des Berner Zytglogge Verlags, dann des Waldgut Verlages, der seinen Sitz in Frauenfeld und Giorgos Seferis, Jürg Federspiel, Christoph Meckel, Werner Lutz (ganz aktuell dessen Gedichtband Treibgutzeilen) und die wunderbare S. Corinna Bille im Programm hat.
Für seine Prosa, für seine Lyrik, ist Brechbühl mit zahlreichen Preisen bedacht worden, darunter der Österreichische Kinderbuchpreis 1987 und, zwölf Jahre später, der Bodensee-Literaturpreis. Brechbühl zählt zu den Wenigen, die dem Sport und Sportlern Gedichte widmen (die Turngedichte, 1920, von Joachim Ringelnatz sind ein frühes Beispiel, Kerstin Hensels „Marathon“ ein spätes). So erinnert Brechbühl an „Edson Arantes do Nascimento“ („jedes Lächeln“ Peles ist „ein Guß in die Fugen der Frauen“) und auch an das Olympia-Attentat im September 1972. Weiters gehört Brechbühl zu den Vielen, die Gedichte auf Bilder geschrieben haben, beispielsweise über Rembrandts „Großes Selbstbildnis“, über Giorgio de Chiricos „Strada metafisica“, Frans Hals’ „Zigeunerin“ und zu „Der Alchimist“ von Carl Spitzweg.
Auch hat Brechbühl, versteht sich, ein (eher bitteres, ein eher böses) Frühlingsgedicht zu Papier gebracht. „Chemische Fabrik im Frühlingswind“ hat er es genannt, und so hat er es enden lassen: „Hurra der Frühling / Hurra.“