Wiener Wurst aus der Hand. Ulla Hahn (oder ihr lyrisches Alter ego) findet den Richtigen.

Besonderer Tag

Aufstehn ins Bad Frühstück mit Tee
Aus dem Fenster schaun
und sich warm anziehn hochgestiefelt
durchs Laub. In der Bibliothek
das Richtige finden dem
Nachbarskind die Schnürsenkel binden
Mittags Wiener Wurst aus der Hand
Dann mit hochgeschlagenem Mantelkragen
dösen auf einer herbstwarmen Bank
Nachmittags lesen Notizen machen
festhalten die Zeit
scheint sich zu weiten wir waren
den ganzen Tag lang zu zweit.

Ulla Hahn

Von Chrysostomos

Es war Marcel Reich-Ranicki, Leiter, bis 1988, der Literaturredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, also einem der wenigen Blätter, die (noch immer) Gedichten in ihrem Feuilleton einen gehörigen Platz einräumen, der Ulla Hahn in den achtziger Jahren bekannt machte. Das Debüt der damals Mittdreißigerin – Herz über Kopf, von 1981 – verkaufte sich so ausnehmend gut wie nur wenige Lyrikbände zuvor, traf bei den Leserinnen wie bei den Kritikern ins Schwarze. „In altvertrauten Reimen und Rhythmen“, ließ MRR verlauten, in altvertrauten „Formen und Formulierungen wird ein Lebensgefühl artikuliert, in dem wir uns wiedererkennen.“

Die im sauerländischen Brachthausen geborene Lyrikerin und Herausgeberin, die inzwischen auch Romane schreibt, wuchs im Rheinland auf. Davon handelt Hahns noch nicht abgeschlossene Prosatrilogie: Das verborgene Wort (2001), Aufbruch (2009). Für ihre Gedichte ist sie früh mit bedeutenden Preisen ausgezeichnet worden. So wurde ihr 1981 der Leonce-und-Lena-, vier Jahre hernach der Friedrich-Hölderlin-Preis zugesprochen. Ulla Hahn macht sich dafür stark, Gedichte laut zu lesen, sie zu rezitieren, sie wirken zu lassen, auf sich und andere, sie sich einzuverleiben. 1999 traf sie eine Auswahl – Gedichte fürs Gedächtnis. Zum Inwendig-Lernen und Auswendig-Sagen – an der sich trefflich die Probe aufs Exempel machen läßt. Das Nachwort hierzu stammt von Hahns Mann, Klaus von Dohnanyi.

Ihrem vierten Buch, Unerhörte Nähe (1988), dem „Besonderer Tag“ entnommen ist, hat Hahn einen Anhang, „für den, der fragt“, hinzugefügt, in welchem sie Auskunft erteilt über ihr Schreiben, über ihr poetologisches (Selbst-)Verständnis. „Gedichte auf die äußere Biographie des Verfassers zu beziehen“, heißt es darin, „führt meist zu Kurz-, selten zu Rückschlüssen.“ Also bloß nicht die Autorin mit dem lyrischen Ich verwechseln. Erfahrungen seien „notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für ein Gedicht“, schreibt Hahn: „Ich leide, also dichte ich? Unsinn. Ich dichte, also leide ich: wenn die Silbe nicht sitzt, das Wort bockt.“ Und weiter: „Gedichte werden aus Silben gemacht, nicht aus Sensationen. Erst wenn das Fleisch Wort wird, entsteht das Gedicht. Dann werden aus Erfahrungen Erfindungen gemacht.“

Daß sich das Glück mehrt, wenn man es teilt, ist eine so schöne wie alte Wahrheit. Dankbar sollten wir sein, wir sind es sogar, für das, was Ulla Hahn uns mitteilt, mit uns teilt, in ihren zauberhaften Versen. Der Tag nimmt seinen Lauf, doch was ist es, das ihn so besonders macht? Es gilt, aufzustehen, man geht ins Bad, dann folgt das Frühstück („mit Tee“), man schaut, vielleicht noch etwas müde von der Nacht, aus dem Fenster. Hier klingt Brecht an, dessen „Vergnügungen“ bekanntermaßen so einsetzen: „Der erste Blick aus dem Fenster am Morgen“.

Man stiefelt durchs Laub (bei Brecht: „Bequeme Schuhe“), geht in die Bibliothek, findet genau „das Richtige“ (Brecht: „Das wiedergefundene alte Buch“). Und weiter: „dem / Nachbarskind die Schnürsenkel binden“ (Hahn), also „Freundlich sein“ (Brecht), „Schreiben“ (Brecht), „Notizen machen“ (Hahn). Glückseligkeit macht sich breit, hat sich längst breitgemacht, so sehr, daß man sie „festhalten“ möchte, die Zeit, die Zeit, die sich „zu weiten“ scheint. Und jetzt der Clou: erst zum unmittelbaren Ende hin erfahren wir von einer „unerhörten Nähe“: „wir waren / den ganzen Tag lang zu zweit.“ Diesen ganzen und eben dadurch so besonderen Tag lang und, das impliziert rückwirkend der Eröffnungsvers, die ganze diesem vorausgegangene Nacht. „Aufstehn ins Bad“, Hahn, „Duschen“, Brecht, bei dem auch die Rede geht von begeisterten Gesichtern. Diese aber finden sich längst auch bei Hahn. Oder sehen Sie ein trauriges, ein verstimmtes, wenn sie nach der Lektüre dieses etliche „Vergnügungen“ bereitenden „Tags“ in den Badezimmerspiegel schauen?

NB: Ulla Hahn, Unerhörte Nähe. Gedichte. Mit einem Anhang für den, der fragt. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1988. Ihr Zuhause hat die DVA lange schon in München. Dort hat Hahn 2011 Wiederworte vorgelegt, mit denen sie auf Herz über Kopf dreißig Jahre hernach reagiert. Noch immer, freut sich Wulf Segebrecht, der den Band im Oktober 2011 in der FAZ besprochen hat, sei die Hahn „kess, frech und gebildet“. Noch immer also „Wiener Wurst aus der Hand“?