Kerstin Hensel geht es sportlich an

Marathon

I

Schön die schwarzen Gazellen in leichtem Lauf ganz vorn
Holen sie sich
Die fette Prämie die macht
Zu Hause drei Dörfer satt

II

Schwer hinten die herrlichen Deutschen
Schwitzen den Beifall aus.

Kerstin Hensel

Von Chrysostomos

Gedichte, die dem langen Laufen gelten, gibt es recht wenige. Selbst ein Günter Herburger, der sich in seiner Prosa wieder und wieder des Themas angenommen hat, klammert den Langlauf in seinem weitgespannten lyrischen Schaffen so gut wie aus. Und doch ist, bei entsprechend reichhaltiger Lektüre, durchaus die ein oder andere Trouvaille zu machen, etwa bei Kerstin Hensel (Alle Wetter, Luchterhand, 2008).

Diese sechs knappen, freien Verse spiegeln die Realität wider, wie sie sich bei großen Silvesterläufen und bei Stadtmarathons jeden Herbst und jedes Frühjahr seit etlichen Jahren dartut. Auch wenn man nicht den verbreiteten Fehler begehen sollte, das lyrische Ich (welches hier sowieso fehlt) mit der Autorin, mit dem Dichter gleichzusetzen, darf vermutet werden, daß Hensel sich zu diesem Gedicht vom Berlin-Marathon hat inspirieren lassen, denn dort, an Havel und Spree, ist die gebürtige Karl-Marx-Städterin nach Stationen in Leipzig und auch in Rom (Villa-Massimo-Stipendium) zuhause. Seit 1999 haben in Berlin ausschließlich Läufer aus Kenia oder Äthiopien gewonnen, bei den Frauen standen zudem Japanerinnen ganz oben auf dem Treppchen und, 2008, die aus Kasachstan stammende, längst für Deutschland startende Irina Mikitenko.

Daß die schwarzen Gazellen das Feld anführen, bildet „Marathon“ dadurch ab, daß davon gleich im Auftaktvers die Rede ist, aber auch, weil der erste Vers der mit einigem Abstand längste ist. Erst hinten dann, in der zweiten Strophe, noch dazu „Schwer hinten“ – eine Anspielung womöglich auf deren (Über-)Gewicht – folgen die „herrlichen Deutschen“. Immerhin werden auch sie in Zeiten, in denen Marathonläufen am Streckenrand Volksfestcharakter eignet, mit Applaus bedacht. Das einzig Fette an den Gazellen in Schwarz ist hingegen die Prämie, die sie sich, wenn die Deutschen noch den Beifall ausschwitzen, längst abgeholt haben und von der – was für ein schönes Wunder – auf der afrikanischen Hochebene gleich „drei Dörfer satt“ werden. Dieses Wunder läßt im übrigen an ein Gedicht Rainer Malkowskis denken (der Reiz von Lyrik besteht unter anderem darin, daß sich zwischen vielen Gedichten ein Beziehungszauber einstellt), an die „Marokkanische Aufklärung“, die so schließt: „von dem, was ich lose / in der Tasche trug, / konnte Achmed einen Monat lang leben.“ Auch die Marokkaner haben großartige Marathonläufer hervorgebracht, etwa Jaouad Gharib, den zweifachen Weltmeister.

Doch zurück zu Kerstin Hensel. Auf unsere Frage, wie sie es denn mit dem Laufsport halte, antwortete Hensel, sie selbst laufe nicht, nannte sich gar eine ausgemachte Gegnerin des Leistungssports und konstatierte: „Mir fehlt auf allen Gebieten des Lebens das Wettkampf-Gen. So ist das.“ Mit Preisen freilich ist sie dennoch bedacht worden, so als eine der letzten vor einer Dekade mit dem inzwischen eingestellten Gerrit-Engelke-Preis (den als erster, zusammen mit Günter Wallraff, Günter Herburger gewann, 1979), auch mit dem angesehenen Leonce-und-Lena-Preis (1991), der 1979 Rainer Malkowski zugesprochen worden war (zusammen mit dem aus dem mittelfränkischen Treuchtlingen stammenden, lange schon in Wien lebenden Ludwig Fels und Rolf Haufs, auf den wir gleich noch zu sprechen kommen werden).

An der Regnitz ist Hensel übrigens oft schon gewesen, auch auf Einladung des unermüdlichen Lyriklesers und -förderers Wulf Segebrecht. Und so ganz kann das mit ihrem Nicht-Laufen nicht stimmen. Denn in der Tanzstunde auf See, von Rolf Haufs, 2010 in der Reihe Lyrik Kabinett bei Hanser erschienen, stößt man auf das Gedicht „Kerstin Hensel läuft über die Schönhauser Allee“. Haufs ist, wer hätte es vermutet, ehemaliger Marathonläufer. Vor allem aber – und noch immer und immer wieder – ein begnadeter Lyriker.