„Was ich heute fälsche, ist morgen schon von gestern“ ? (Karl Valentin)
Wolfgang Neustadt
Über Rekonstruktionen historischer Architektur wird überall trefflich gestritten. Die Debatten gehen nicht nur Architekten, Stadtplaner, Denkmalpfleger, Kunsthistoriker oder Politiker etwas an, sondern alle. Das beweist das Bürgerengagement in Berlin (zum Schlosswiederaufbau s.u.a. Jürgen Tietz/deutsche bauzeitung), in Frankfurt (zu den historisierenden Neubebauungen des Römers siehe Matthias Alexander/FAZ) oder Dresden (Dankwart Guratzsch/Die Welt, dito J. Tietz/Neue Zürcher Zeitung). Zum Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche besteht vor allem in westdeutschen Denkmalkreisen ohnehin weiter anhaltender Nord-Süd-Dissens.
Die Ausstellung „Geschichte der Rekonstruktion – Konstruktion der Geschichte“ 2010 in München rückte die Fragen zu Architekturrekonstruktionen verdienstvoll ins Blickfeld. Der Umgang mit Ruinen, historischen Baufragmenten und ex-novo Wiederaufbauten wurde schon im unmittelbaren Nachkriegsdeutschland, in Ost und West, unterschiedlich begründet (vgl. die Dresdner Wiederaufbauten von Semperoper, Zwinger, Schloss, Hof- und Kreuzkirche, ferner den Neuaufbau der Frankfurter Paulskirche), siehe auch den Umgang mit der Ruine der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche.
Sowohl das bewusste Bewahren der Ruine der Frauenkirche zu DDR-Zeiten wie ihre komplette Rekonstruktion nach der Wende sind politisch aussagekräftig und somit weiterhin umstritten.
Was wurde schon so alles in Europa in der 2. Hälfte des 19. Jh. rekonstruiert, frei ergänzt oder historisierend neu erfunden, im Zuge des (nunmehr wiederaufgewerteten) Historismus. Einer seiner „Chefideologen“ war der Franzose Eugène Violett-Le-Duc. So entstanden in Deutschland auch erst im 19. Jh. die Domfassade in Köln (nach jahrhundertelanger Bauunterbrechung), die Kathedraltürme in Ulm und Regensburg, in Italien die Mailänder Domfassade sowie die zwei Prospektschalen am Dom Santa Maria del Fiore und von Santa Croce in Florenz.
Die Gegenbewegung zu den historisch fragwürdigen Architekturrekonstruktionen wurde angeführt von John Ruskin, der die Kultivierung des materiellen Verfalls propagierte, möglichst ohne jegliche erhaltenden Eingriffe. Beispiele für dahinsiechende historische Architektur fand er zuhauf in Italien, vor allem in Venedig. Wenn ein historischer Bau schließlich seine Funktion nicht mehr erfüllen konnte, war ein Neubau vorzuziehen anstelle eines reparierenden Eingriffs.
Die Kluft zwischen diesen zwei Extrempositionen wurde zumindest auf deutschsprachiger Seite um 1900 von den Vätern der nordalpinen Denkmalpflege Georg Dehio und Alois Riegl eingeebnet. Historisierende Aufhübschung, gar Rekonstruktionen wurden als sündhaft verteufelt, ein Verfall war durch konservierende Eingriffe aufzuhalten.
Cesare Brandi gab diesen theoretischen Grundsätzen mit seiner Teoria del Restauro 1963 modernen systematischen Inhalt und Form.
Er bleibt bis heute der maßgebliche Denkmal- und Restaurierungstheoretiker, vor allem bei uns hier. Seine hilfswissenschaftlichen Theorien fanden Eingang in die ebenfalls bis heute gültige Carta di Venezia 1964: Restaurierung soll eine Wiederherstellung der potenziellen Einheit eines Kunstwerks anstreben unter Bewahrung seiner historischen Spuren, ohne historische oder künstlerische Fälschung (restauro critico). Die Quadratur des Kreises also!
In Italien gab es nun im Sommer 2011 einen spektakulären Streitfall um den/einen erstmaligen ex-novo Bau nach existierenden Michelangelo-Fassadenentwürfen für die San Lorenzo Basilika in Florenz. Die Diskussion ist mittlerweile entschieden, und zwar dagegen. Die jeweils geführten Argumente vermögen gleichwohl neue Aspekte in die hiesigen andauernden, denkmaltheoretisch verkrusteten Auseinandersetzungen einzubringen.
Der deutsche Kulturkreis denkt angeblich zutiefst romantisch. Bei Lichte gesehen hat er aber ein ästhetisch höchst paradoxes, gebrochenes Verhältnis zum Unvollständigen, zur Ruine, zu im Kunstwerk innewohnenden Gegensätzen und Brüchen, generell zum Fragmentarischen in Kunst und Architektur. Das beweist nicht nur unser oben angedeuteter Umgang mit den historischen Baurelikten nach 1945.
In Italien dagegen lässt sich bis heute, somit weit über Brandi hinaus, ein auffallend „fragmentfreudiger“ Umgang bei historisch-architektonischen Projektierungen konstatieren (vgl. grundlegend zum unterschiedlichen Formempfinden Heinrich Wölfflins Einfühlungsästhetik in: „Italien und das deutsche Formgefühl“; ein Ansatz des späten 19. Jh., der leider durch die rassistische NS-Vereinnahmung bis heute deutlich geschädigt bleibt und somit offenbar weiterhin wissenschaftlich hinderlich ist). Beim modernen Bauen im Bestand geht man dort im Zuge der Postmoderne wesentlich erfrischender vor (vgl. ab ca. 1950 den Protagonisten Carlo Scarpa, nachfolgend u.a. Massimo Carmassi, Guido Canali, Mario Piana, Paolo Marconi u.a., vgl. in Deutschland Hans Döllgast, München, Karljosef Schattner, Eichstätt, zuletzt David Chipperfield/ Architekt und Wolfgang Wolters/Kunsthistoriker als geistige Väter der restauratorischen Projektierung des Neuen Museums in Berlin).
Dem deutschen Italientouristen wird auffallen, dass italienische Kirchen in der Hauptfassade verbreitet nur ihre allerwerteste Unterkonstruktion zeigen. War es Not, waren es die geschichtlichen Umstände oder Vandalen, die evtl. bereits ausgeführte Fassadeninkrustationen als Steinbrüche nutzten? Die Antwort darauf wird nur der Einzelfall hergeben.
Die Fassade nun von San Lorenzo in Florenz ist als nackter Ziegelbau eine der berühmtesten italienischen „Unvollendeten“.
Der 393 n. Chr. geweihte Baukörper wurde in den nachfolgenden Jahrhunderten zweimal grundlegend überformt, bis er schließlich zur Hauskirche der Medicidynastie schlechthin wurde. So geschehen 1059 sowie 1418-21 mit Brunelleschis Neuplanung und Vollendung 1461 durch Antonio Manetti.
Man muss sich der herausragenden Bedeutung dieses Bauwerks klar werden, um die Diskussionen in der italienischen Öffentlichkeit verstehen zu können. San Lorenzo gehört zu den Kronjuwelen der Renaissance, ranggleich wie Santa Maria del Fiore, Santa Maria Novella, Santa Croce oder Santo Spirito. Nahezu die gesamte Kunstgeschichte des 15.-16. Jahrhunderts findet hier statt (Brunelleschi, Donatello, Verrocchio, Lippi, Settignano, Rosso Fiorentino, Pollaiolo, Bronzino). Der Bau ist eine einzige „Anthologie exemplarischer Exellenzen“ (so Antonio Paolucci, Direktor der vatikanischen Museen). Natürlich war auch Michelangelo Buonarroti dabei, er plante ab 1520 die Medici-Gräber in der neuen Sakristei und entwarf die später ausgeführte Biblioteca Lorenziana. Bereits 1515 erhielt er von Papst Leo X., Sohn von Medicifürst Lorenzo „il Magnifico“, den Auftrag für die Fassade, der aber 1520 wahrscheinlich aus Kostengründen storniert wurde. 1521 verstarb Leo X.
Das Michelangelo-Museum Casa Museo Buonarroti verwahrt sowohl autografe Fassadenpläne wie auch eines der zwei erhaltenen zeitgenössischen Holzmodelle. Michelangelos Entwurf sah einen rechteckigen Prospekt in weißem Carrara-Marmor vor, ausgeführt als bis zu sechs Meter tiefer Vorbau (Narthex), mit kräftig profilierten Gurtgesimsen, Nischen, Säulenstellungen, Reliefs und Skulpturenprogramm, von letzteren sind jedoch keinerlei Baudetails überliefert.
Besonders in der rezenten Vergangenheit zog man wiederholt einen Fassadenneubau in Erwägung. Zuerst war es Maria Luisa de Medici, die 1737 eine Rekonstruktion nach den Michelangelo Plänen vorschlug. Dann kam Mattei da Seravezza 1895, der dafür einen eigenen nennenswerten Beitrag spenden wollte. Das Projekt wurde schließlich zu einem Wettbewerb umgebogen, an dem 75 Architekten teilnahmen. Alle Versuche blieben ergebnislos.
2011 nun bekam das erneut seit ca. 2006 gärende Rekonstruktionsprojekt eine politische Dimension.
Florenz’ Bürgermeister Matteo Renzi konnte sich erneut für die Idee erwärmen. Gerade Renzi, der sich, von allen Lagern anerkannt, denkmalpflegerisch-stadtplanerisch bereits für Florenz verdient gemacht hatte, als er die historische Altstadt mit Domplatz freimachte vom Auto- und Schienenverkehr und eine Fußgängerzone durchsetzte. Sein neuer Anlauf geht zurück auf Eugenio Giani, den ehemaligen Direktor des Michelangelo-Museums, mittlerweile Präsident des Stadtrats. Er veranlasste 2006 allnächtliche Video-Projektionen des Michelangelo-Entwurfs auf die unvollendete Fassade. Ein Riesenerfolg. Giani rekrutierte ein Bürgerkomitee, bestehend aus heimischen Sponsoren, Unternehmern und Hoteliers, mit dem Plan einer ephemären Plastikfassade, die schließlich als Eingangsportal des Florentiner Flughafens noch hätte herhalten können. Der Zeitpunkt für die Ausführung lag günstig. 2015 war das magische Jahr: 500 Jahre Fassadenentwurf für San Lorenzo sowie 150 Jahre Florenz als temporäre italienische Hauptstadt der Risorgimento-Bewegung. Veranschlagte Kosten: 2,5 Millionen Euro. Sogar amerikanische Sponsoren standen schon bereit. Die Idee erschien zudem hilfreich für den ohnehin anstehenden Masterplan des San-Lorenzo-Viertels mit seinem dahinsiechenden Kirchenvorplatz. San Lorenzo gehört, nahe dem Dom gelegen, zum größten touristisch nutzbaren Areal in Florenz. Ein Referendum sogar sollte den Neubau legitimieren. Nach nationalen Protesten liegt das Projekt jedoch nun auf Eis. Bis zum nächsten Versuch.
Die San-Lorenzo-Fassade war für mehrere Wochen das nationale Kulturthema. Namhafte Kritiker, Architekten und Denkmalpfleger führten das Wort: Vittorio Sgarbi/Kunstkritiker, Antonio Paolucci/Direktor der vatikanischen Museen, Tomaso Montanari/Kunsthistoriker und Kritiker, Gabriele Morolli/Architekt, Massimo Cacciari/Philosoph/Kritiker/Politiker und vor allem Cristina Acidini/Chefin des Museumspools Florenz und kommissarische Leiterin des Opificio delle Pietre Dure/OPD, einer der zwei bedeutendsten staatlichen Restaurierungsinstitute. Letztlich war man recht einhellig gegen den Neubau. Es gab aber unüberhörbare Unteröne, so richtig freimachen von der Grundidee wollte oder konnte sich fast keiner. So wurde mehrfach eingeräumt, dass ein solches Projekt durchaus interessant, gar charmant sei (Sgarbi, Montanari). Der Florentiner Architekturprofessor Gabriele Morolli sah den Vorschlag als eine bedenkenswerte, gar visionäre Provokation. Im Chor der vorsichtigen Befürworter wurde moniert, dass Florenz grundsätzlich rückwärts gewandt sei mit dem Gefühl, das Beste der Geschichte hinter sich zu haben, insofern hätte eine neue provokante Idee durchaus Sinn (Montanari).
Florenz brauche neue kulturelle Stimulation mit Neubewertung seines Erbes mittels moderner Kunst.
Filippo Giovanelli (Firenze curiosità) stimmte zu: Florenz brauche neue kulturelle Stimulation mit Neubewertung seines Erbes mittels moderner Kunst. Dabei könne die Rekonstruktion der San-Lorenzo-Fassade eine große Herausforderung sein in glücklicher Paarung seines grandiosen Kunsterbes mit den modernen technologisch-künstlerischen Fähigkeiten der „Michelangeli der Gegenwart“.
Letztlich blieben die Hauptverfechter Renzi und Giani allein auf weiter Flur, die Diskussion ebbte mit dem klassischen Ferienmonat August 2011 abrupt ab.
Herausragender Meinungsführer gegen die Rekonstruktion, ganz im Sinne der staatlichen Denkmalpflege, war Antonio Paolucci (Direktor der vatikanischen Museen). Er gesteht zwar das Überraschungsmoment bei unvoreingenommenen Besuchern ein, dass ein derart herausragender Bau jemals ohne Fassade geblieben war. Das Bauwerk sei und bleibe aber gerade in seiner heutigen überlieferten Form ein authentisches Dokument für eine unvollendete, historisch höchst bedeutende „Baustelle“. Sowohl für die Geschichte der Stadt als auch in untrennbarer Verknüpfung mit Person und Werk Michelangelos. Niemand wird sich heute seriös herausnehmen können, es künstlerisch oder technisch mit einer Baustelle des frühen 16. Jahrhunderts in vergleichbarer Ausdrucksstärke aufnehmen zu wollen. Aus einer Rekonstruktion könne nur Flickwerk hervorgehen, da detaillierte Planvorlagen fehlten. Ein Kunstwerk bestehe schließlich auch aus ungeplanten plötzlichen Konzeptänderungen, in-situ-Korrekturen des Autors, wovon sich heute rein nichts mehr erahnen ließe. Stil, Techniken sowie künstlerische Ingeniösität des 16. Jh. müssten ohne Hoffnung auf ein befriedigendes Ergebnis auf modernes Denken und Planen treffen. Damit war schon (fast) alles gesagt.
Tomaso Montanari (Kunstwissenschaftler, Publizist) sah die Gefahr, dass sich damit Florenz sklavisch dem touristisch geprägten Leitbild, Disneyland oder Las Vegas vergleichbar, vollends opfere. Superkitsch also.
Eher peinlich kam Massimo Cacciaris Kritik daher (Philosoph, Politiker), als er die bereits in Florenz vorhandenen zwei „Quälgeister“ (gemeint waren die zwei Fassaden des 19. Jh.: Dom und Santa Croce) geringschätzig als vollkommen ausreichend bezeichnete. Damit muss ihm ein Lapsus unterlaufen sein, als er damit offenbar vollkommen unreflektiert die Architekturleistungen des 19.Jh. über den Kamm abqualifizierte.
Auch Cristina Acidini (Direktorin des Museumspools Florenz) wandte entsprechend ein, dass Florenz doch bereits zwei ex novo Fassaden besäße, was reichen müsse. Wo liegt der Sinn, etwas aufzubauen, was nie existierte? Gerichtet gegen Theorie und Praxis des französischen Denkmalpapstes Viollet-Le-Duc (1814–1879), dessen Grundsatz lautete: „Architekturrestaurierung kann nicht nur heißen, Architektur zu erhalten, zu reparieren oder zu rekonstruieren, sondern sie in einen Zustand zu versetzen, der nie existiert hat“. Genau das wäre jedoch mit diesem Projekt der Fall gewesen. Beider Argumente (Cacciari und Acidini) erscheinen in ihrem historischen Ansatz wenig stringent. Sind doch genau die zwei genannten Fassadenneubauten des Florentiner Doms und Santa Croces kunsthistorisch als eigenständig bedeutende Interpretationen aus ihrer Zeit heraus zu verstehen und anerkannt. Dies ist zumindest hierzulande hart erkämpfter „common sense“ der letzten ca. 25 Jahre mit der überfälligen, für viele offenbar immer noch schwer zu verdauenden, Neubewertung des Historismus. Montanari zeigt genau in diesem Sinne skrupellos auf die Wunde, wenn er letztlich aber dem Projekt weiterhin ablehnend gegenübersteht. Schon die Rekonstrukteure von Dom- und Santa-Croce-Fassade im ausgehenden 19. Jh. bauten ja keineswegs entsprechend vorhandener Konzepte vorhergehender Jahrhunderte. Beide Fassaden seien sehr wohl als originale Kunstwerke lebendiger Künstler auf der Höhe des Historismus zu sehen. Diese zwei ex novo Rekonstruktionen stellten beileibe keine architektonische Nekrofilie dar (krankhafte Leichenfledderei). Und er geht noch weiter. Wenn wir letztlich heute die Bedeutung der beiden umgesetzten historistischen Fassadenentwürfe anerkennen, wäre doch schlüssig, analog einen qualitätversprechenden internationalen Wettbewerb auszuschreiben und Renzo Piano, Richard Rogers, Santiago Calatrava, Frank Gehry etc. einzuladen.
Vittorio Sgarbi (Kritiker) versuchte auch, trotz ebenso grundlegender Ablehnung, der Rekonstruktionsidee noch etwas abzugewinnen, als er sich gar nicht abgeneigt auf die Multimedia-Projektionen des Michelangelo-Entwurfs auf die unvollendete Fassade 2006 bezieht. Alternativ zur faktischen Ausführung des Neubauprojekts könne er sich allnächtlich ganz „ephemer und schmerzfrei“ entsprechende 3D-Projektionen weiterhin gut vorstellen (Entwurf und Umsetzung von Natali-Multimedia in Zusammenarbeit mit der Architekturfakultät der Universität Florenz; Technik: 2 Videoprojektoren 20.000AL Full-HD; das Spektakel wurde nach 2006 mehrfach wiederholt).
Die italienischen Meinungsäußerungen sind erfrischend, gar überraschend und durchaus konstruktiv für die Diskussionen hierzulande.
Der eigentliche Grund für die Ablehnung des Projekts ist aus unserer Warte gesehen jedoch differenzierter zu sehen, als es auf den ersten Blick erscheinen mag.
Nach unserem Verständnis bleibt es für einen vergleichbar bedeutenden Kirchenbau wie San Lorenzo hier doch schlicht undenkbar, ausgerechnet seine Fassade, als „das Aushängeschild“, jemals unvollendet zu lassen. Große Ausnahmen wie die nicht abgerissene Ruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche (sie wurde schließlich nur nach anhaltendem Protest nicht abgetragen) oder die in der DDR bis zur Wiedervereinigung (!) bewusst als mahnende Ruine belassene Frauenkirche bestätigen die deutsche Denkmalregel.
Wer je in Italien unterwegs war, weiß, dass zum einen unzählige Kirchenfassaden un- bzw. nur teilvollendet geblieben sind (u.a. Abtei in Fiesole, San Petronio in Bologna usw.). Er weiß zudem, dass Fassaden von Kirchen, Villen, Wohnhäusern oder auch besten Restaurants häufig einen öffentlich keineswegs störenden Verfall verherrlichen und damit über die wahren inneren Verhältnisse signifikant hinwegzutäuschen vermögen. Entsprechend unserer sehr deutschen Sichtweise: „außen pfui, innen hui“.
Er kennt auch die unzähligen antik-fragmentarischen Ausgrabungsstätten. Das italienische Verhältnis zu Denkmalverfall, Ruine und Fragment weicht in Ruskinschem Sinne (vgl. „anti-scrape“ und „palimpsest“) spürbar von unserem ästhetischen Grundempfinden ab. Das italienische Auge strebt nicht nach „ästhetischer Vollendung“, es weiß mit architektonischen Brüchen, Fragmenten, Ruinen und unvollendeten Zuständen gut umzugehen.
Eine Stimme im Chor der italienischen Kritik blieb noch (fast/s.o.) ungehört. Die differenzierte Argumentation von Cristina Acidini (Museumspool und OPD, Florenz) musste dem aufmerksamen hiesigen Zeitgenossen zu denken geben. Sie möchte nämlich ex novo-Rekonstruktionen nicht a priori ausschließen. Bei hartnäckiger Ablehung jedoch einer rekonstruierten San Lorenzo Fassade. Würde diese doch nicht nur die Basilika selbst, sondern das gesamte Stadtviertel urbanistisch verändern. Die Fassade stelle eben gerade mit ihrer Nichtvollendung ein für ganz Florenz bedeutendes, historisches Zeichen dar, gar eine unberührbare Ikone.
Man könne aber durchaus, das ist für uns interessant, bereits ausgeführte Rekonstruktionen auch in Italien neu bewerten, wie z.B. die Wiederaufbauten durch äußere Gewalt zerstörter oder abgegangener Bauwerke. So auch über die Brücke Santa Trinità in Florenz (Original von Bartolomeo Ammannati 1567-70, zerstört 1944 von deutschen Truppen, Wiederaufbau unter Zweitverwendung originaler Steine) oder den Glockenturm auf dem Markusplatz in Venedig, nach Einsturz 1902. Ganz explizit zieht sie dann den Vergleich auf ebenso tragische Einwirkungen wie durch Krieg zerstörte bedeutende Architektur in Deutschland und Polen, auch Beispiele in Frankreich wären zu nennen. Alle stehen für erlittene Traumata, nach denen eine Gesellschaft sehr wohl das Recht haben müsse, ein Bauwerk wiederzugewinnen als symbolischen historischen Wert.
Eine derartige Grundhaltung könnte nicht nur einer hiesigen nachhaltig orthodoxen Denkmalpflege, vor allem in Bayern, frischen Wind geben.
Das sollte hierzulande aufhorchen lassen. Eine derartige Grundhaltung könnte nicht nur einer hiesigen nachhaltig orthodoxen Denkmalpflege, vor allem in Bayern, frischen Wind geben. Werden doch immer noch u.a. die modernen Rekonstruktionen der Frauenkirche und der Preussenschlösser in Berlin und Potsdam bayerisch theoretisierend infrage gestellt, gar nachhaltig angefeindet. Ein interessantes Beispiel war die erst kürzlich vernommene haarsträubende Provinzthese eines öffentlich bestallten, bayerischen Hauptkonservators, besser gesagt Denkmalideologen: die Alterung der rekonstruierten Dresdner Frauenkirche werde wünschenswert dazu führen, dass der leidige Kontrast zwischen den in der Fassade verwendeten Neubausteinen und den original brandgeschwärzten Spolien bald nicht mehr sichtbar sein wird (sic!). Ganz so, als wenn nicht gerade der denkmalpflegerische Wert der wiederaufgebauten Frauenkirche nicht in ihrem Wert als historisch mahnendes Dokument und Zeugnis liegen dürfe. Die Neubauteile in Angleichung an die geschwärzten Spolien altern zu lassen, kann nur als denkmalpflegerische Fälschung angesehen werden. Ganz im Sinne von „Was ich heute fälsche, ist morgen schon von gestern“?. Nein, danke!
Dieses Denken steht für eine dauerhaft verkleisternde Geschichtsideologie. Das Trauma 1933-45 ist offenbar immer noch nicht aufgearbeitet.
Ein saniertes Baudenkmal braucht somit immer noch aushängende Zeittafeln, die auf seinen Wert als Zeitdokument verweisen müssen.
Ein saniertes architektonisches Geschichtsdenkmal muss bei uns aussehen „wie neu“ oder „in neuem Glanz“, eben gesichts-, weil geschichtlos. Schon der Begriff „Palimpsest“ ist hier gerademal Altphilologen bekannt. Denkmalpflege bedeutet bei uns (in Bayern) stets in Konkurrenz zu treten mit einem Neubau. Ein saniertes Baudenkmal braucht somit immer noch aushängende Zeittafeln, die auf seinen Wert als Zeitdokument verweisen müssen. Ruinen, Fragmente, gealterte Zustände oder historische Brüche tun sich in diesem Land weiter sehr schwer. Historisch in alternativem Sinne handelnde Denkmalarchitekten lassen sich an einer Hand abzählen. David Chipperfield ist zudem Engländer, Wolfgang Wolters ist beruflich-ideologisch eher Italiener als Deutscher (Restaurierung Neues Museum in Berlin).
Denkmalpflege bleibt hier altbackene falsche Romantik, quantitativ zwar „intensiv“, qualitativ aber unhistorisch denkend. Wie sehr wird hierzulande restaurierungstheoretisch Cesare Brandi gepredigt, nur ist halt keiner drin! Geschichte muss auch architektonisch faszinieren, sie muss suggestiv, überraschend, gar provokativ sein dürfen und Fragen ermöglichen, das alles ist mit totsanierten Fassaden und Innenräumen etc nicht zu leisten.
Geschichte braucht hierzulande, vor allem in der Denkmapflege, eine neue, differenzierte Bewertung auch im Zusammenhang mit historisierenden ex novo Rekonstruktionen, auch des Spannungsfelds historischer Architektur oder ihrer Fragmente im modernen Bauzusammenhang. Dafür waren die italienischen Debatten über die Fassadenrekonstruktion von San Lorenzo allemal beispielhaft und hilfreich.