Wolfgang Neustadt
Eine Kritik zum „Kulturinfarkt, von allem zuviel und überall das Gleiche; eine Polemik über Kulturpolitik, Kulturstaat, Kultursubvention“, Autoren: Dieter Haselbach, Armin Klein, Pius Knüsel, Stephan Opitz, Verlag Knaus, München, Frühjahr 2012
In den heiligen Gefilden der deutschen Kunst- und Kulturpolitik verursachte „Der Kulturinfarkt“ einen Aufschrei schmollender Beleidigter. Offenbar traf man damit einen Nerv.
Kritische Reaktionen blieben jedoch bisher überwiegend fachbezogen, d.h. man zeigte sich selbstbetroffen, immer aus der jeweiligen privaten Ecke heraus, keineswegs übergreifend, auf den Gesamtansatz des Buchs bezogen. Gerade aber eine möglichst übergreifende und vorbehaltlose Auseinandersetzung mit dem Thema jedoch kann auch die Vorzüge, neben den freilich massiven konzeptionellen Schwächen, deutlich machen. Genau das ist bisher meines Wissens noch nicht geschehen. Die Diskussion bedarf dringend einer differenzierteren Versachlichung.
Das Buch ist in seiner Argumentationsweise vielschichtig, analytisch stellenweise brilliant, aber auch unterstrukturiert und repetitiv, gar ausschweifend und somit verwirrend.
Es ist, das wird von den Autoren eingeräumt, Pamphlet und Provokation, woraufhin sich frühe, auch namhafte Kritiker allzu schnell beleidigt aus der Affäre zogen (so H. Parzinger/ SPK Berlin, in SZ). Gerade die analytischen Ansätze mit ihren gesellschafts-/kulturkritischen Verknüpfungen in der ersten Buchhälfte machen den echten „Streitwert“ des Textes aus.
Gegenwärtig sind die Diskussionsfronten verhärtet. Zudem: gezielt angesprochen fühlen muss sich bisher leider ja auch niemand. Wie und wo soll denn überhaupt ein notwendiger Diskurs darüber in nächster Zukunft zu führen sein? Welches Gremium bzw. Forum soll überhaupt imstande sein, darüber gebündelt zu verhandeln und neue Konzepte entwickeln?
Der von den Autoren angegiftete kulturpolitische Ist-Zustand lässt sich plakativ anhand ihrer provokanten Eingangsthesen so anreißen:
der öffentliche Kulturbetrieb steht kurz vor dem Infarkt;
- das kulturpolitische Fördersystem ist selbstreferentiell und -legitimierend, es bewegt sich in einem nicht mehr aus sich selbst heraus aufzubrechenden Teufelskreis;
- die sog. Förderfalle: einmal gefördert – immer gefördert; Politik und Förderer profitieren von immer denselben Akteuren; die Protagonisten biedern sich systemunkritisch an;
- nur auf der Fördercouch ist Kultur sicher und segensreich; wer subventioniert ist, rebelliert nicht mehr; usw.
Der kritische Begründungs- und Analyseapparat birgt nachfolgend eine Fülle immer wieder erfrischender Ansätze, aber nicht durchgehend ganz neuen Datums:
pointierende Darstellung von der klassisch-frühbürgerlichen Kulturidee und ihrer historischen Entwicklung über die „NS-Kultur“ bis zur Abwägung des in den 1970er Jahren entwickelten Konzepts der„Kultur für alle“;
- kritische Auseinandersetzung mit Benjamin, Adorno (sog. Adornofalle) und Horkheimer;
- sozio-psychologische Komponente des deutschen Kulturbetriebs: aktuelles Kunst- und Kulturvergnügen nur gepaart mit Selbstzweifeln möglich; zeitgenössische Kunst ist nur noch ironisierend und gebrochen darstellbar, ihre unmittelbare, ungefilterte Darstellung wäre nur Kitsch; bürgerlicher Kultur- und Kunstgenuss ist so nur als Selbstzähmung gegen Empathie und Ekstase denkbar; dementsprechende Sinnenfeindlichkeit z.B. von Architektur oder auch Denkmalpflege an sich;
- die durchschlagende finanzielle Misere der öffentlichen Haushalte seit der Finanz- und EU-Krise ab 2008;
- damit einhergehend die wachsende soziale Krise der vor allem auch in Kultur und Kunst Beschäftigten; Unterbezahlung freiberuflich in der Kultur Tätiger; Einstiegspräkariate in Form unbezahlter Praktika und Volontariate;
- generelle Kulturlastigkeit unserer heutigen Gesellschaft.
Der darauf schließlich aufbauende konzeptionelle Hebel steht nun in einem aufällig negativen Widerspruch zur positiv zu bewertenden Analyse. Das Konzept enthält überwiegend nur oberflächlich „populär-kulturell“ verhaftete Verschlimmbesserungsvorschläge bekannter massenkultureller Couleur. Es ist erschreckend, wie bei soviel Analyse einfach nur die (zwar neumodische) neoliberalistische Idee einer Kulturvermarktung bereits bekannten Stils übrig bleiben kann:
unerbittliche umfassende Ausdehnung des meritorischen Prinzips, d.h. marktwirtschaftlicher Kriterien in den Kunst- und Kulturbetrieb; bereits der aktuelle Istzustand birgt dafür begründet genügend Sorge;
- Übernahme massenrelevanter Verwertungsinhalte und -Formen à la US- und 3. Welt-Massenkulturen wie z.B. Holly-/Bollywood, Disneyland; weiter verstärkte Aufnahme nachfrage- und konsumorientierter Kriterien in den inhaltlich-formalen Konsumhaushalt;
- Kunst und Kultur sollen sich also volkstümlich, „populärer“ (sprich: populistischer) gerieren; auf unsere heimatlichen Gefilde übertragen könnte das z.B. heißen: Lederhosen und Dirndl, Schnupftabakdosen und Lüftlmalerei in die Pinakothek der Moderne, oder auch: „Jodeln fürs Welterbe“; immer im Namen und zum Wohle des „mündigen Bürgers“;
- Laptops und Computerspiele in alle Schulen, wiederkehrende Axiome der Propaganda sind „Topoi“ wie „Laptops und Kunst“ oder „Laptops und Ästhetik“;
- also: rundum Feier des modernen, sprich populistischen Amateurismus und der Laienkultur, ganz à la „Laptop und Lederhose“ (Anm. Autor);
- die geforderte Einbeziehung multiethnischer Kultureinflüsse in das nationale Kulturkonzept bleibt jedoch fürwahr ein richtiger Ansatz.
Schon entlarvend, wie ideologisch verfangen die Autoren funktionieren. Kein Wort von den unweigerlichen, vor allem den „mündigen Bürger“ kompromittierenden wirtschaftlichen Interessen, von der „kulturindustriellen Schere“, nichts von den „mündige Bürger“ umtreibenden kritischen Nachhaltigkeitsaspekten oder gar konsumkritischen Ansätzen.
Natürlich besteht z.B. kein ernsthafter Zweifel daran, dass Digitalisierung, Internet etc. die entsprechenden offenen Beteiligungsstrukturen etc. auch zu neuen, bleibend kaum absehbaren ästhetischen Ausdrucksformen führen werden oder bereits haben (vgl. z.B. nur Fotografie und Malerei im 19. Jh., rezenter die Videokunst). Aber medial neue kunst-kulturelle Strukturen werden sich keinesfalls mechanistisch einstellen, wie die Autoren es sich wünschen. Von der bemerkenswert dialektisch geprägten Analyse ist im konzeptionellen Teil rein nichts mehr zu spüren.
Das Buch kann leider, trotz seiner (nur) 287 Seiten, noch länger werden. Gebetsmühlenartig werden bestimmte Kernpunkte wiederholt, wodurch z.B. den Thesen in der Analyse auch die Schlagkraft genommen zu werden droht. Zum Teil wird leider auch widersprüchlich, verworren oder gar peinlich argumentiert (s.o. konzeptioneller Teil). Es fehlt auch eine das Buch in Anlage und Ausführung leitende Hand, offenbar werden die Schweizer Verhältnisse eher vorbehaltlos (und unkontrolliert?) auf die deutschen Zustände übertragen. Stil und thematische Herangehensweise sind mancherorts heterogen. Die Autoren werden zudem leider nicht persönlich vorgestellt, auch stehen sie nicht namentlich für ihre jeweiligen Beiträge.
Hiermit wurde nun keinesfalls einem Kulturbolschewismus zu Munde geredet. Auch wird diesem hier vorgebrachten kritischen Versuch ebenfalls ein gewisses inhärentes „spät“ bürgerliches Erbe mit entsprechend eingelagerten Widersprüchen nicht grundsätzlich abzusprechen sein. Was aber nichts am grundkritischen Ansatz zum Buch ändert.
Das Buch sollte trotz allem grundsätzlich positiv als Diskussionsanstoß verstanden werden und keinesfalls sofort in den üblichen Schubladen der Betroffenheit eines aufgesetzt wirkenden Entsetzens verschwinden dürfen. Die Diskusssion aufrecht zu erhalten, vielleicht auch sie zu versachlichen, das war hier das bescheidene Anliegen. Der öffentlich getragene Kulturbetrieb muss reagieren, hoffentlich aber nicht zu langsam oder gar zu spät. Die Fronten und Streitpunkte sind deutlich, es gibt gegen die Thesen des Buches in der Tat vieles zu verteidigen.
Die Diskussionsplattform ist hingegen noch nicht ausgemacht.
Einige provokante, gleichwohl treffsichere Thesen des Buches lassen sich natürlich spielend auf Bamberger Verhältnisse etc. herunterbrechen. Der hiermit begonnene Faden soll fortlaufend auch mit „beispielhaften“ entsprechenden Ereignissen weitergesponnen werden, z.B.:
infrastrukturelle Subventionszwänge und -Fallen: Beispiele für die Kunst und Kultur ad absurdum führende, sie gar pervertierende staatliche Fördermechanismen;
- Kunst und Kultur als „Notlösungen“ (wähleraktivierend und meinungsfördernd);
- Sinn oder Unsinn von Kunst am Bau?