Maiblumen im Juni und Luft von einem anderen Planeten

Von Musicouskuß

Wien, 1900. Jahrhundertende, Jahrhundertwende. Fin de siècle, Jugendstil. Die Zeit ist reif, reif für Veränderung. The times, they are a-changin‘. Auch in der Musik, in den Künsten überhaupt. Die Moral wird gern über Bord geworfen. Erlaubt ist, was gefällt. Nur anziehend muss es sein, ästhetisch schön: „Wiener Jugendstil“ stand im Fokus des sechsten Kammerkonzertes mit Musikern der um die Sopranistin Maraile Lichdi als Gast erweiterten Bamberger Symphoniker.

Pan

Berlin, 1895. Otto Julius Bierbaum und Julius Meier-Graefe edieren Pan, die jener Zeit des Umbruchs gemäße Kunst- und Literaturzeitschrift. Franz von Stuck illustriert den Titel der Erstausgabe, Arno Holz veröffentlicht dort, der Würzburger Max Dauthendey und, von Anbeginn an, Richard Dehmel. Dehmel? Gilt er seinen Zeitgenossen noch als einer der bedeutendsten Lyriker deutscher Zunge, so ist der vor anderthalb Jahrhunderten im Brandenburgischen Geborene heute nahezu vergessen.

Die Eros und Schönheit feiernden, dezidiert vitalistischen Gedichte Dehmels aber leben in der Musik weiter. Bei Richard Strauss und Max Reger, bei Alma Schindler-Mahler-Gropius-Werfel, bei deren Kompositionslehrer und Geliebten Alexander von Zemlinsky, bei dessen Freund und, wenn man so will, Schüler Arnold Schönberg.

Bamberg, Joseph-Keilberth-Saal, im frühen Juni 2012, 16.33 Uhr. „Kommen Sie ruhig rein!“, ermuntert Andreas Ulich zwei, drei leicht Zuspätgekommene. Zu spät für den Beginn von Ulichs Einführung in die Welt des Jugendstils, in das Denken, das Leben, Lieben und Treiben seiner Protagonisten. Gerade hier passt der Vortrag des freien Schauspielers und Rezitators, denn ein wenig fühlt man sich an die Konzerte innerhalb des „Vereins für musikalische Privataufführungen“ erinnert, den Schönberg im Herbst 1918 in Wien gründete. Auch jene Konzerte wurden gelegentlich von einem Vortrag begleitet.

Diesen „Verein“ sollte Alexander von Zemlinsky als Kapellmeister am Neuen Deutschen Theater in Prag – an der Moldau liegt der Urquell der Bamberger Symphoniker – vier Jahre später aufleben lassen. Zemlinskys „Maiblumen blühten überall“ für Sopran und Streichsextett, nach Richard Dehmel, macht den Auftakt. Zwischen Brahms und Mahler, die ihn förderten, zwischen Wagner, Strauss und Schönberg oszilliert Zemlinskys Musik. Fragment ist diese klangschwelgerische Kostbarkeit geblieben, Zemlinsky hat um die Jahrhundertwende lediglich die beiden ersten Strophen von Dehmels „Die Magd“ vertont.

Angeführt von Primaria May-Britt Trunk bereiten die sechs Streicherinnen und Streicher der Symphoniker ein Klangbett (einschließlich hinreißender Cello-Kantilenen von Lucie de Roos und Katja Kuen), über dem Maraile Lichdis glockenheller Sopran aufs Schönste erblühen darf. „Der wilde Mohn stand feuerrot“, so rot wie Lichdis Bolero zum Abendkleid in Schwarz. Glühend leuchtende Musik ist das, herzzerreißend elegisch, getragen auch von Schmelz, hochintensiv wiedergegeben von der Gesangssolistin und ohne an Intensität und Schönklang zu verlieren so weitergeführt im Abgesang von den staatsphilharmonischen Streichern.

Seiner ersten Frau Mathilde, der Schwester Zemlinskys, gewidmet hat Arnold Schönberg das Streichquartett Nr. 2 fis-Moll op. 10 von 1908, auch wenn Mathilde damals eine Affäre hatte mit Richard Gerstl, über den Schönberg zur Malerei fand. Auch hier gesellt sich zu den jetzt von Angela Stangorra angeführten Streichern der Sopran. „Mäßig (moderato)“ hebt der erste, noch der Spätromantik verpflichtete Satz an. Das sehr rasche Scherzo zitiert den Wiener Gassenhauer „Oh du lieber Augustin“ und endet in einem wilden con-fuoco-Schluss; wache Blicke zwischen den Vieren garantieren grandioses Zusammenspiel. Die langsame „Litanei“ bringt Stefan George mit ein und den Schmerz Schönbergs angesichts der in flagranti ertappten Frau: „Tief ist die trauer, die mich umdüstert“. Und: „Töte das sehnen, schliesse die wunde! / Nimm mir die liebe, gib mir dein glück!“

Dass Maraile Lichdi vor allem in der Musik des 20. Jahrhunderts zuhause ist, zahlt sich hier hörbar aus, und mehr noch im „Entrückungs“-Finale.

„Ich fühle luft von anderem planeten“, nun ist es Zeit für Veränderung, für die Loslösung von der Tonalität: „Ich löse mich in tönen, kreisend, webend“. Genau das macht Schönberg, und dem „grossen atem“ Lichdis, ihren spitzen Tönen, die sie sogleich wieder ins Piano zurücknimmt, lauscht, sich „wunschlos ergebend“, das Publikum.

Das ergriffene Lauschen setzt sich nach der Pause fort. Auch Schönbergs „Verklärte Nacht“, sein im Sommer 1899 entstandenes Opus 4 für Streichsextett, verdankt sich Richard Dehmels Lyrik. Und diese wiederum dem Leben, dem „sündigen“ Liebesleben einer Frau, die ein Kind von einem Anderen erwartet. Schönberg lobt an seiner Inspirationsquelle die „in höchstem Maße poetische Darstellung der Gefühlsregungen, die durch die Schönheit der Natur hervorgerufen werden“, und findet hierfür nicht minder bewegende Entsprechungen in der Musik. Die bei Strauss dem großen Orchester vorbehaltene Tondichtung wird hier zum kammermusikalischen Endlos-Melos, das dann doch verklingen muss.

Wunderbar gelingt den Symphonikern nicht nur das Zwiegespräch zwischen Violine und Bratsche (WenXiao Zheng), geraten satte Pizzicati und „Tristan“-nahes Feuer. Unter den enthusiasmierten Zuhörern sind staatsphilharmonische Kollegen, immer ein gutes Zeichen, in welchem sich Anerkennung und Achtung spiegeln. An diesem Junisonntag werden sie gefeiert, werden lautstark beklatscht. Bravi den Kollegen, von ihren Kollegen.

Was bleibt? „Was bleibt,“ schreibt Durs Grünbein 1992, „sind Gedichte. Lieder, wie sie die Sterblichkeit singt. / Ein Reiseführer, der beste, beim Exodus aus der menschlichen Nacht.“ So endet, mit einer „Musik der Freudensprünge von Wort zu Ding“, Grünbeins „Erklärte Nacht“, so endet auch der gleichnamige Suhrkamp-Band, so, mit Schönbergs Opus 4, endet ein Kammermusikrezital, das lange noch nachhallt. Das in Erinnerung bleibt.