Die dienende Kundry weiß alles

Monika Beer

Anmerkungen zum „Parsifal“ am Landestheater Coburg in der Inszenierung von Jakob Peters-Messer und unter der musikalischen Leitung von Roland Kluttig

Szene aus dem 1. Akt mit Tünde Szaboki als Kundry, dahinter Roman Payer als Parsifal und rechts Michael Lion als Gurnemanz. Foto: Andrea Kremper

„Mich musste der Reinste verraten, dass wissend würde ein Weib.“ Wenn Brünnhilde im Schlussgesang der „Götterdämmerung“ vor ihrem Sprung ins Feuer noch einmal rekapituliert, was nicht nur ihr geschehen ist, fragt sie in einseitigem Zwiegespräch ihren Vater Wotan: „Weiß ich nun, was dir frommt? Alles, Alles, Alles weiß ich, – Alles ward mir nun frei.“ Die nun wissende, aber dem Tod geweihte Brünnhilde hatte bisher für mich nichts mit Richard Wagners letzter Frauenfigur, der faszinierenden, in vielen Facetten schillernden und Fragen auslösenden Kundry, zu tun. Erst in Jakob Peters-Messers Coburger „Parsifal“-Inszenierung fiel mir es wie Schuppen von den Augen, dass ausgerechnet die stumme, nur noch dienende Kundry des dritten Akts eine logische und durchaus emanzipatorische Fortsetzung Brünnhildes ist: Sie ist in dieser merkwürdigen Männerwelt der einzige Mensch, der schon einen Schritt weiter ist. Sie allein weiß auch sehr genau und vor allen anderen, was sie tut und warum. Wenn Gurnemanz konstatiert: „Wie anders schreitet sie als sonst“, beschreibt das eben nicht nur das spirituelle Umfeld der Karfreitagsaue, sondern unterstreicht das selbst-bewusste Auftreten dieser durch alle Höhen und Tiefen gegangenen Frau. Am Ende muss sie denn auch nicht, wie es in Wagners Regieanweisung steht, „vor Parsifal entseelt langsam zu Boden sinken“. Nein, sie, die zusammen mit Parsifal dafür gesorgt hat, dass Kelch und Speer wieder eins geworden, dass das männliche und weibliche Symbol endlich versöhnt sind, geht Parsifal stark und lächelnd voraus in ein anderes Leben, wo es der gerade abgelegten Riten und Reliquien nicht mehr bedarf.

Schon die erhellende Kundry-Deutung ist eine Fahrt nach Coburg wert, zumal am Landestheater mit der ungarischen Sopranistin Tünde Szaboki eine Protagonistin zu erleben ist, die die ungewöhnlich konturierte Rolle glaubwürdig ausfüllt. Zwar neigt ihr Sopran zu Schärfen und lässt damit Wünsche offen, doch eine Kundry, die alle Noten sauber trifft, weitgehend wortverständlich singt, die Registerbrüche fabelhaft umschifft und bei den gegebenen Ausbrüchen das Haus erzittern lässt, ist ein Ereignis. Zudem gelingt es ihr im zweiten Akt, wo die Regie den ganzen falschen Verführungszauber als solchen zeigt und die Mütterlichkeit der Figur betont, gängigen Klischees aus dem Weg zu gehen – selbst wenn sie zeitweise als Monroe-Kopie aufgedonnert und die Szenerie in rosa Licht getaucht ist.

Tünde Szaboki als Kundry und Michael Bachtadze als Amfortas im 2. Akt. Foto: Andrea Kremper

Dass die Verführerin die Mutter des Verführten sein könnte, stellt sich in Coburg auch deshalb so eindringlich dar, weil hier mit Roman Payer ein Parsifal zu erleben ist, der ideal zu dieser Interpretation passt. Im ersten Akt in seinem Hoodie (Kostüme: Sven Bindseil) ist der schlanke und gut zwanzig Jahre jünger wirkende Sänger glaubhaft ein verunsicherter Knabe, der froh ist, wenn er seine Hände in die Taschen stecken kann, zwar für einen Moment eine spirituelle Anwandlung hat, aber noch rein gar nichts versteht von dem geistigen Weg durch Raum und Zeit, auf den Gurnemanz ihn bringt. In den zweiten Akt, inzwischen ein Mann, führt er sich als schwarz vermummter Kämpfer ein, der Schritt für Schritt zu begreifen beginnt, im dritten Akt, nach seiner Irrfahrt durch einige Weltreligionen, trägt er eine orangefarbene Montur, aufgemalte Zeichen im Gesicht und zeigt ohne Pathos jene Empathie, die es braucht, um seinen Heilsauftrag durchzuführen. Stimmlich bringt der österreichische Tenor alles mit, was ein guter Parsifal braucht: klare Artikulation und eine Stimmsubstanz, die beides ermöglicht: Glanz und Weichheit, Kraft und Empfindsamkeit. Sein Rollendebüt ist ein großes Versprechen – auch weil er hörbar ein Sänger ist, der bei jedem einzelnen Wort weiß, was es bedeutet.

Schlussszene mit Roman Payer als Parsifal. Foto: Andrea Kremper

Letzteres ist dem doppelt geforderten Michael Bachtadze, der sowohl den kranken Gralskönig Amfortas als auch dessen Gegenspieler Klingsor gibt, noch nicht in dem Maße gegeben. Der aus Georgien stammende, bisher vor allem im italienischen Fach glänzende Bariton liefert insgesamt dennoch ein überzeugendes Wagner-Debüt. Die Besetzung von Amfortas und Klingsor mit nur einem Sänger ist ein regielicher Coup, der die Erkenntnisprozesse Parsifals im zweiten Akt auch bildlich plausibel macht. Überraschenderweise ist das stimmlich durchaus kein Fehlgriff, denn, wie der Wagnerexperte Stephan Mösch nachweisen konnte, hatte schon Wagner selbst den Klingsor-Sänger der Uraufführung als Cover für Amfortas vorgesehen. Und noch eine Übereinstimmung: Der Amfortas von 1882 war auch später weiterhin im italienischen Fach sehr erfolgreich. Belcanto und Wagner beißen sich durchaus nicht, sondern profitieren voneinander.

Selbst Hausbassist Michael Lion ist ein Rollendebütant. Sein Gurnemanz ist ein Fels in der Brandung, der sängerisch klug portioniert und darstellerisch gleichzeitig unaufdringlich und doch so prägnant seines Mentoren-Amtes waltet, dass er gleich Heerscharen an heiligmäßigen Langweilern souverän hinter sich lässt. Was im gegebenen Setting der Gralsritter gut aufgeht. allerdings gar nicht so schwer ist. Denn Regisseur Jakob Peters-Messer zeigt schon im ersten Akt eine moderne, sektenähnlich-uniforme, aber individuell geführte Männergesellschaft, bei der irgendetwas etwas nicht stimmen kann. Das Einheitsbühnenbild (Bühne und Lichtgestaltung: Guido Petzold) – ein mit Leuchtstoffröhren bestückter und lädierter, zuweilen mit Projektionen erweiterter Kunstraum – verändert sich dreidimensional nur zum Karfreitagszauber. Die von Wagner vorgeschriebenen Verwandlungen im ersten Akt – „Du siehst, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit“ – und im dritten Akt finden auf der Bühne nur als spirituelles Gemeinschaftserlebnis zwischen Gurnemanz und Parsifal statt, begleitet von Bildern einer Wagnerbüste, die in Wagners Totenmaske übergeht. Will heißen: Wesentlich ist, was die Musik spricht.

In Coburg ist die Musik allen akustischen und sonstigen Bedenken zum Trotz das Zentrum. Und hört sich natürlich anders an als im Bayreuther Festspielhaus, für dessen überdeckten Orchestergraben Wagner den „Parsifal“ komponiert hat. Was aus dem sehr kleinen und offenen Coburger Graben kommt, klingt schon aus räumlichen Gründen nicht überirdisch schwebend und entrückt, sondern ist – gespielt wird die orchesterreduzierte Coburger Fassung von Alfons Abass – sehr direkt und geht unmittelbar unter die Haut. Generalmusikdirektor Roland Kluttig und sein kleines, aber immer feineres Orchester setzen alles daran, das sogenannte Bühnenweihfestspiel ohne Pathos aufzuführen. Ein schnelles, aber variables Grundtempo, dazu musikalisches und musikantisches Mitdenken und Mitfühlen, das die vom Dirigenten vorab sehr genau gelesenen und analysierten großen und kleinen Noten fließend verlebendigt – so sehr, dass einem plötzlich in den Sinn kommt, wie modern Wagners 135 Jahre alte „Parsifal“-Musik sein kann.

Natürlich ist die Koordination von realen Höhenchören aus den oberen Rängen im Zuschauerraum mit Einspielungen der Mittelstimmen, Originaltönen der Instrumentalisten aus dem Graben und den Chorstimmen auf der Bühne eine Herausforderung, die nicht jedes Mal perfekt klappt. Aber auch was Chor und Extrachor unter der Leitung von dem nach Hannover wechselnden Lorenzo da Rio leisten, ist für ein Haus dieser Größenordnung mehr als beachtlich. Unter den weiteren Solisten lassen vor allem die Frauenstimmen aufhorchen – kindliche Blumenmädchen mit Kuscheltierhasen, die im psychedelischen Zaubergarten aufleuchten dürfen und im dritten Akt einen zusätzlichen stummen und sinnfälligen Auftritt haben, während Parsifal Kundrys Tränen mit einem überraschend echten Kuss versiegen lässt.

Es sind derlei inszenatorische Details, die das Regiekonzept von Jakob Peters-Messer so bedenkenswert und gehaltvoll machen. Seine Interpretation zielt auf die Erkenntnisprozesse nicht nur der Hauptfiguren, zeigt in ausgefeilter Personenregie spannende Entwicklungen in einer von vornherein ernüchternd maroden Gesellschaft – und das alles, ohne das Werk zu verbiegen, ohne die gegebenen religiösen Handlungen zu konterkarieren. Diese Lesart zeigt durchaus kritische Distanz, ist aber offen für die spirituelle Substanz, für die philosophischen und theologischen Implikationen von Wagners „Weltabschiedswerk“. Der Coburger „Parsifal“ gibt Denkanstöße in viele Richtungen, was ihn deutlich von der aktuellen Bayreuther Festspielinszenierung unterscheidet, die außer belanglosen Oberflächenreizen rein gar nichts zu bieten hat.

Besuchte Generalprobe, Premiere sowie die Vorstellungen am 13., 23. und 30. April. Weitere Aufführungen am 15., 18. und 25. Juni 2017. Karten-Telefon 09561-898989, Infos auf www.landestheater-coburg.de