Auf nach Bosnien-Herzegowina. Eine im Künstlerhaus Edenkoben entstandene Anthologie lädt ein zu einer lyrischen Abenteuerreise.

Es gibt noch Momente

Es gibt noch Momente,
in denen die Welt
nicht die Summe aller Schrecken ist.

Wo ich nicht Quellwasser trinke,
sondern Hoffnung, und wo, während Spechte klopfen,
mein kindliches Herz noch schlägt.

Wo die Zypressen wie Pinsel sind.
Wo der Himmel überquillt
von Myriaden von Fußnoten: Sternen.

Und wo der Mond am Vorabend von Christi Geburt
der miletischen Münze mit dem Kopf
der Sappho gleicht.

Wo das Zirpen der Grillen
aus meinen hunderten Vergangenheiten hellblau
widerhallt.

Wo die ganze Größe des Daseins wie ein Mondstrahl
auf das Gesicht
meines schlafenden Kindes scheint.

Marko Vešović
(Nachdichtung von Ron Winkler)

Von Chrysostomos

Das zweite Dutzend ist voll! Soeben im Heidelberger Verlag Das Wunderhorn erschienen und gestern hier in der Memmelsdorfer Straße eingetroffen ist Band 24 aus der von Gregor Laschen begründeten und inzwischen von Hans Thill fortgeführten Reihe „Poesie der Nachbarn – Dichter übersetzen Dichter“, der man möglichst viele Leserinnen und Leser wünscht. Nach Slowenien, nach Schweden, nach Kroatien und Belgien geht es nun, fein aufgemacht in frühlingshaftem Grün, mit Lesebändchen versehen und grundsätzlich zweisprachig gehalten, oft mehr als nur eine Übersetzung des Originals offerierend, nach Bosnien-Herzegowina.

Mithin, so läßt sich vermuten, in eine Terra incognita, jedenfalls für die meisten Deutschen, und wohl gerade auf dem Gebiet der Literatur. Bekannt ist allenfalls der aus dem zwanzig Fußstunden nordwestlich von Sarajevo gelegenen Travnik stammende Nobelpreisträger von 1961, Ivo Andrić. Die im Geständnis eines Despoten, wie die Anthologie heißt, versammelten sechs Autoren zählen zu den bedeutendsten ihres Landes. Übersetzt haben sie, während einer Arbeitswoche im Künstlerhaus Edenkoben und auf Grundlage einer von Hana Stojić angefertigten Interlinearversion, Sünje Lewejohann, Brigitte Oleschinski, Richard Pietraß, Àxel Sanjosé, die 2009 für den Roman Du stirbst nicht mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnete Kathrin Schmidt und der Berliner Lyriker und Übersetzter – unter anderem von Gedichten des wunderbar leichten, humorvollen New Yorkers Billy Collins, dem John Updike attestierte, er schreibe „bezaubernde Gedichte“, also „klar, galant und immer verblüffend“ – Ron Winkler.

Da ist also Tatjana Bijelić, 1974 in Kroatien geboren und jetzt in Banja Luka zuhause, die Prosa schreibt und Lyrik, die Gedichte von der britischen Insel überträgt und die ihren „Nachtisch in der Bibliothek“ einnimmt, sich fragt „Wohin mit den Büchern?“, die „langsam langsam Schnaps Tschewaptschitschi / Banjaluka schöne Titten yeeees“ hochleben läßt; da ist der in Sarajevo lebende Journalist und Autor Faruk Šehić, zuhause in einem Land, „in dem exhumierungen schlagzeilen machen“; da ist Mile Stojić, gleichfalls in Sarajevo wohnend (der aber ein Jahrzehnt im Wiener Exil verbracht hat), der Verfasser von Essays und düster-melancholischen Gedichten, in denen „Liebeslyrik“ verachtet, „Schnaps in Eckkneipen, / auf Ex und auf leeren Magen“ getrunken und ein „Akkord der Tuberkulose / In Chopins Balladen“ ausgemacht wird.

Tanja Stupar-Trifunović, 1977 im kroatischen Zadar geboren, schreibt über die „Welt der Mütter“, über „das wesen unserer beziehungen“ und über eine Mathematikprofessorin, die sich einen Vibrator kauft, denn: „ich kann es wohl kaum mit den schülern treiben“. Stevan Tontićs Gedicht „Oh, wie Du gefeiert wirst, mein Vater!“ wäre gerade heute zu besprechen, oder wenigstens zu lesen. Tontić lebte lange in Berlin, übersetzt aus dem Deutschen – beispielsweise Christa Wolf – und ist mit dem Literatur-im-Exilpreis der, wie man hört, noch immer schönen Stadt Heidelberg ausgezeichnet worden. Seine Lyrik liegt auch hierzulande vor, veröffentlicht etwa im Verlag Ralf Liebe und in der Edition ERATA des Leipziger Literaturverlages.

Wir haben uns aber für Marko Vešovićs „Momente“ entschieden, weil uns gerade am Vatertag das Bild von der ganzen „Größe des Daseins“, die „wie ein Mondstrahl / auf das Gesicht / meines schlafenden Kindes scheint“, so gut gefällt, aber auch, weil wir die Farbe Hellblau mögen, Spechte, die in Osterhofen und anderswo klopfen, weil das „Zirpen der Grillen“ auch unser Ohr ein ums andere Mal erfreut und weil wir unser „kindliches Herz“ uns noch lange zu bewahren hoffen, zumindest da, wo es erlaubt und angebracht, wenn nicht sogar angesagt, ist. Vešović, schreibt Hana Stojić in ihrem Nachwort, schenke den Menschen, die die Belagerung Sarajevos miterlebt haben, seine lyrische Stimme. Im Original klingt sie so:

Ima još trenutaka

Ima još trenutaka
kad sveden svijet nije
na svotu strahota.

Kada ne pije vodu s vrutaka
no vjeru da u kucanju žuna
njegovo djetinje srce još bije.

Kad su čempresi poput slikarskih kistova.
Kad su nebesa prepuna
zvjezdica za milijarde fusnota

a mjesec, uoči roždestva Hristova,
nalik je miletskoj moneti
sa Sapfinom glavom.

Kad zrika šturaka,
iz stotinu njegovih prošlosti, odzvanja
svijetloplavo.

Kad na lice njegovog djeteta usnulog sleti,
kao mjesečeva zraka,
sva veličina bivstvovanja.

NB: Ist es nicht schön, zu erleben, daß man auch ohne Nachdichtung die Bedeutung von „milijarde fusnota“ errät, auch die von „miletskoj moneti“, daß man – hier hilft die Großschreibung – weiß, wer sich hinter „Hristova“ verbirgt?

NBB: Es sei nachdrücklich empfohlen, sich diese Anthologie anzuschaffen, und am besten gleich noch weitere Bände aus der in jeder Hinsicht vorbildlichen Reihe der „Poesie der Nachbarn“. Zumindest das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia (schon aus Verbundenheit zu ihrer Edenkobener Entsprechung) und die Staatsbibliothek Bamberg sollten das tun.