Führende Forscher halten Deutung des Bamberger Reiters als hl. Stephan von Ungarn bis auf Weiteres als die plausibelste

Christiane Hartleitner
Bamberger Reiter im Dom. Foto: Erich Weiß

Bamberger Reiter im Dom. Foto: Erich Weiß

Anfang Februar eröffnete Gottfried Knapp mit seinem Beitrag „Des Königs Blick nach Bethlehem“ in der SZ den erhofften Reigen um die (erneute Um-) Deutung des Bamberger Reiters. Vorausgegangen waren der mächtige zweibändige Dominventarband des Bayerischen Landesamts für Denkmalpflege von 2015 und eine daraus resultierende Schlussfolgerung des Bamberger Generalvikars Georg Kestel „Der Bamberger Reiter – der auf den Stern schaut!„. Doch schaut er tatsächlich auf einen (fiktiven) Stern? Bereits in 2001 publizierte die Bauforschung die Blickrichtung ins Mittelschiff, auf den ursprünglichen Standort des Kaisergrabs. Wohl eingedenk der Tatsache, dass der Dombau in seiner Intension eines Memorialbaus errichtet wurde. Ob der eher kleinen Randnotiz in der SZ dachten wohl Bamberg-Forscher Endlich! Das Schlusswort mündet in der Überlegung zu den kaum vorstellbaren Ausmaßen eines solcher Art bestückten Lettners, manifestierte sich die Deutung als Heiliger König. In der gegebenen Ausführlichkeit – und ob der exquisiten Kennerschaft der Bamberger Verhältnisse – publizierte Professor Robert Suckale jüngst in seiner Rezension „Das Bamberger Domstift (Die Kunstdenkmäler von Oberfranken IV)“ auf ARTHIST die Argumentationskette. Spätestens nun dürfte die Riege der Kunsthistoriker, Bauforscher, Religionswissenschaftler, Mittelalterforscher wachgerüttelt sein und hellhörig werden. Die Bamberger Onlinezeitung zitiert die Rezension ob ihrer Relevanz in voller Länge. Mit dem Beitrag „Der Bamberger Reiter ist ein Orientale“ des stellvertretenden Ressortleiter Feuilleton der Welt, Lucas Wiegelmann, findet sich der zu NS-Zeiten als Vorzeige-Germane missbrauchte Reiter nun als Orientale wieder.

Prof. Dr. Robert Suckale

Das Bamberger Domstift (Die Kunstdenkmäler von Oberfranken IV)

Rezensiert von: Robert Suckale, Berlin

An sich ist es erfreulich, dass mit geringem zeitlichem Abstand die Kunstdenkmälerbände zweier wichtiger Baukomplexe des Mittelalters, der Dome zu Bamberg und Regensburg, veröffentlicht werden, auf die man Jahrzehnte gewartet hatte. Da beide unter der Obhut des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege entstanden, würde man denken, dass sie ähnlich konzipiert und ausgeführt wurden. Das Gegenteil ist der Fall: Man kann sich kaum einen größeren Gegensatz vorstellen als diese beiden Inventare. (Das Regensburger Dom-Inventar ist zu besprechen, wenn die beiden fehlenden Bände erschienen sind).

Das Bamberger Inventar hält sich an den vor mehr als hundert Jahren formulierten Leitfaden für die Inventarisierung der bayerischen Kunstdenkmäler. Damals wurden die Zahl und der Umfang der Bände festgelegt, und es wurde definiert, was in sie aufzunehmen sei. Das Mittelalter wurde bevorzugt, das 18. Jahrhundert und erst recht das 19. nicht berücksichtigt. Letztlich ging man immer von einem rückwärtsgewandten Kunstbegriff aus. Der veränderte sich jedoch unter dem Eindruck der Kunst und des Kunstbetriebs der Moderne. Die Kunstgeschichte wurde umgeschrieben. Vor allem wurde der Denkmalbegriff ausgeweitet, ein Prozess, der noch nicht abgeschlossen ist.

Das Konzept des Inventars und größere Textfragmente stammen von Tilmann Breuer, dem langjährigen, verdienten Inventarisator der Stadt. Dennoch kann dieser Band nicht mehr als Muster für andere dienen: Durch den ahistorischen Neuzuschnitt der Verwaltungsbezirke Bayerns hat die Inventarisation gemäß den Bezirksgrenzen ihren Sinn verloren. Die Ausweitung des Denkmalbegriffs und der Verzicht auf Wertung hat die beiden Bände auf zusammen 1940 Seiten mit 2144 Abbildungen anschwellen lassen, davon über 20 eingeklebte, auszufaltende Doppel- oder Dreifachseiten, dazu fünf separat aufbewahrte Faltpläne, alles auf schwerem Kunstdruckpapier gedruckt. Bei regem Gebrauch wird die Buchbindung bald versagen. Sinnvoll wäre gewesen, das Ganze auf mindestens vier Teilbände aufzuteilen und dabei inhaltlich besser zu koordinieren. Denn die rigorose Trennung von Innen und Außen erschwert die Benutzung.

Man hat die Probleme in Bamberg gesehen, aber nicht gewagt, die naheliegenden Schlüsse zu ziehen. Stattdessen wurde versucht, mit vielen kleinen Tricks die Zahl der Seiten zu vermindern. Deshalb sind die Überschriften der Kapitel und die Zwischenabstände zu klein, ebenso die Schrifttypen. Das Ergebnis sind Unübersichtlichkeit und schlechte Lesbarkeit. Um möglichst viele Abbildungen unterzubringen, wurden viele Bilder auf weniger als eine Viertelseite reduziert. Man hat weder gewagt, das Format des Buches zu vergrößern, noch die breiten Ränder wenigstens zum Teil für die Bilder zu nutzen.

Das wäre noch zu ertragen, wenn sich nicht derselbe Starrsinn noch stärker in der Bebilderung zeigte: Es ist geradezu hinterwäldlerisch, dass in diesem Inventar kein einziges Farbfoto zu finden ist. Die Ablehnung der Farbe geht auf Tilmann Breuer zurück. Das war wegen des Farbzerfalls der Farbnegative und Diasammlungen gerechtfertigt, ist es aber angesichts der Qualitäten digitaler Fotografie nicht mehr. Die Abbildungen 971 ff. zeigen angeblich farbige Fassungen; was man sieht, ist aber nur eine formlose, schwarz-graue Sauce. Christine Hans-Schuller, die den Text über die farbigen Fassungen im Dom geschrieben hat, muss sich genasführt vorkommen angesichts der Illustrierung ihrer Ausführungen durch Schwarz-Weiß-Abbildungen. Dergleichen hätte man sich sparen können. Wer Farbe sehen will, kann die Dissertation der Verfasserin konsultieren (Imhof-Verlag, Petersberg).

Man hat darauf verzichtet, die Baugeschichte des Bamberger Doms neu zu schreiben, sondern hat Dethard von Winterfeld, den Senior der Dom-Forscher, gebeten, einen Auszug aus seiner bahnbrechenden Monographie von 1979 für das Inventar zu erstellen. Seine Ergebnisse bilden den Eckpfeiler des neuen Bandes, machen jedoch das Studium der älteren Monographie nicht überflüssig. Mit seinem Namen wird für immer der Beweis der Entstehung des Fürstenportals in den Jahren kurz vor 1224 verbunden bleiben, und damit die Korrektur der irreführenden Chronologie der gotischen Skulptur in ganz Europa.

Noch nie hat ein Inventar so vielen Wissenschaftlern Arbeit und Qualifikationsmöglichkeiten geboten. Der einsame Rezensent sieht sich einer Phalanx von mehr als 50 Forschern gegenüber. Der Band 1 hat die folgenden, von mir nicht berücksichtigten Kapitel: Die Vorgängerbauten und Ausgrabungsbefunde, die Bautechnik sowie die späteren Veränderungen und Restaurierungen; in Band 2 sind das: Die Chorschranken, Altäre, Skulpturen und Grabmäler, Textilien und anderen Objekte des Domschatzes, die Kapitelsbauten usw. Den gesamten Bau mitsamt Ausstattung angemessen zu rezensieren, ist ausgeschlossen. Die Referierung des Forschungsstandes würde obendrein dadurch erschwert, dass viele Kunstwerke noch immer höchst kontrovers diskutiert werden, weshalb ich mich entschlossen habe, nur zu einigen Aspekten der Bearbeitung der Steinskulptur durch Dorothea Diemer Stellung zu nehmen, während zu anderen Abschnitten, etwa zum Bamberger Retabel des Veit Stoß keine neuen Erkenntnisse oder Fragestellungen vorliegen und deshalb hier nicht weiter darauf eingegangen werden soll.

Der Bamberger Dom ist nicht nur ein Monument der Kunstgeschichte, sondern auch eins der Wissenschafts- und Fotogeschichte. Vor allem die Reiterskulptur war im Dritten Reich und schon in den Jahren zuvor durch die Fotos von Walter Hege zum Mittelpunkt nationalistischer Erbauung und nationalsozialistischer Geschichtsklitterung geworden. Hege hat den Reiter mit seinen nächtlichen, handwerklich perfekten Aufnahmen durch expressionistische Lichtregie dramatisiert und monumentalisiert, besonders auffällig bei Abb. 1445. Als NS-Ikone idealen Deutschtums schmückte der Hegesche Reiter tausendfach Schulräume und prägt das Image der Skulptur noch heute. Bei vielen Besuchern des Bamberger Doms ist die Enttäuschung groß, wenn sie merken, wie klein der Reiter ist, fast mädchenhaft zierlich und keineswegs im Mittelpunkt der Kirche stehend. Leider ist die Rezeptionsgeschichte nicht berücksichtigt. Heges Fotos werden kommentarlos weiterverwendet.

Nach allzu langen Ausführungen über die Bamberger Geistlichkeit, endlosen Bibliographien und überflüssigen Feststellungen, wie z.B.: „Die Domkirche liegt auf dem Domberg […]“ (S. 154) muss sich der ungeduldige Leser noch durch mehr als ein halbes Hundert Seiten mit der Aufzählung aller Pläne und Ansichten durcharbeiten, die niemanden zur Lektüre reizen werden, weil sie kaum erläutert und nur selten abgebildet sind. Nach einer ausführlichen Baubeschreibung und Baugeschichte mitsamt der Geschichte aller Umbau- und Erhaltungsmaßnamen kommt der Leser auf S. 375 zum ältesten und – wegen der nachträglichen Anbringung von sechs Statuen – jüngsten Portal, der Adamspforte, dem allgemeinen Zugang in das Innere des Domes. Dort findet er rechts das früheste Ensemble der Bamberger Domskulptur im Kircheninneren, die Reliefplatten mit den Aposteln, die die zwölf Sätze des apostolischen Glaubensbekenntnisses bekennen, muss aber feststellen, dass sie erst im nächsten Band auf S. 840ff. behandelt werden.

Die Autorin macht es sich selbst schwer, wenn sie das Portal eigenwillig von Süden nach Norden beschreibt (zuerst Stephanus, zuletzt Eva), statt die mittelalterlichen, heraldischen und Zeremonialregeln zu befolgen (die Mitte vor den Seiten, rechts vor links, innen vor außen, oben vor unten usw.) Erschwert wird so auch die Entschlüsselung des Programms, das entgegen der Behauptung von Frau Diemer durchaus einen Sinn ergibt: Die Verehrung der hl. Kunigunde übertraf bei weitem diejenige ihres Gemahls, trotz ihrer späteren Kanonisation. Das erklärt ihre alle überragende und mittige Position im heraldisch rechten Gewände: Sie ist es, die dem hl. Stephanus ein Chorherrenstift schenkt und zugleich die Gläubigen demütig an ihren Gemahl verweist. Adam aber steht als Hauptschuldiger am Sündenfall in der Mitte des linken Gewändes, der Kaiserin gegenüber. Im Übrigen nimmt Adam fast immer – entsprechend den Regeln und Traditionen der patriarchalischen Gesellschaften – den Platz zur heraldisch Rechten Evas ein. Frau Diemer will uns glauben machen, der Portaltypus mit 2 x 3 = 6 Heiligen sei höchst ungewöhnlich. Dagegen kann u.a. das Reimser Sixtus-Portal und das Portal der Kirche in Villeneuve l’Archevêque angeführt werden.

Frau Diemer behandelt Adam und Eva als gleichartig. Die Statuen von Eva und Kunigunde sind mit dem aus der französischen Hüttenpraxis übernommenen Zahneisen gearbeitet und benutzen die Anstückungsmethode französischer Herkunft. Der Steinmetz des Adam aber verwendet noch die Flachmeissel der älteren Werkstatt. Auch die Körperauffassung von Adam und Eva unterscheidet sich erheblich: Bei Eva ist die unterschiedliche Kontraktion der Oberschenkel-Muskulatur von Stand- und Spielbein genau beobachtet, bei Adam nicht. Bei ihm ist der Übergang vom Bein zum Bauch sehr hart und wirklichkeitsfremd.

Das legt folgende Schlussfolgerungen nahe:
1. dass hier zwei verschiedene Bildhauer am Werk waren
2. dass der Bildhauer des Adam zur älteren Werkstatt gehört
3. dass er zeitgleich mit dem Bildhauer der Eva arbeitete
4. dass mit der Anfertigung der Statuen für das Adamsportal nach Beendigung der Arbeiten am Fürstenportal, vielleicht schon vorher, angefangen wurde.

Die technischen Befunde, die so weit reichende Schlüsse erlauben, sind nicht etwas Nebensächliches: Die neue ‚Bauforschung‘ – wovon man gleichsam ‚hors concours‘ im Anhang auf den Seiten 1872–1897 eine Kostprobe von Maren Zerbes erhält – ist eine empirische, alle Aspekte der Skulpturen-Steine berücksichtigende Analyse. Sie registriert oft Beobachtungen, die von den Kunsthistorikern meist als Fakten zweiter Klasse oder gar als lästige Störung verzeichnet wurden, weshalb man sie meist unterdrückte, wie Bruchstellen, Dübellöcher, Spuren der benutzten Werkzeuge, Verfärbungen, Fassungsreste usw. Frau Diemer vertritt eher eine konventionelle kunsthistorische Richtung, die gelegentlich sehr spekulativ wird, wie sich an ihren Äußerungen zum Clemens-Grabmal zeigt.

Die Adams-Pforte bietet außerdem ein instruktives Beispiel des Methodenkonfliktes: zwischen radikaler Empirie und wissenschaftlicher Konvention. Meine von ihr in Anm. 186 auf S. 381 (Bd. 1, Abb. 291) mitgeteilte Beobachtung, Petri rechte Hand sei ‚wohl barock überarbeitet‘, wird von Frau Diemer abgelehnt: „Der Befund bleibt fraglich, weil sonst nirgends in der Bamberger Skulptur barocke Eingriffe solcher Art nachweisbar sind.“ Selbst wenn dies so sein sollte, bleibt der eklatante Unterschied zwischen den beiden Händen Petri zu erklären. (Leider gibt es im Inventar keine Detailabbildung dieser Zone). Die den Kreuzesschaft umfassende, unbeschädigte, linke Hand ist aus dünnen Zylindern geformt und scheint keine Knochen zu haben. Bei der rechten Hand hingegen wird das Knochengerüst geradezu überbetont. Diese Betonung der Anatomie datiert den Eingriff, da korrekte Anatomie frühestens seit dem Ende des 16. Jahrhundert auf den Lehrplan der Kunstadepten kam.

Erfolgversprechend für das weitere Studium der Bamberger Domskulptur ist nur eine umfassende Bauforschung, die ähnlich genau vorgeht wie die Restaurierungswissenschaften, aber stärker historisch verankert ist. Komplementär dazu muss es Forschungen geben, die weit in die Nachbarfächer ausgreift. So erkannte z.B. der französische Historiker Jean Claude Schmitt: La raison des gestes dans l’Occident médiéval, Paris 1969, Taf. XXIII und S. 325) die Geste des in die Hölle abgeführten Königs im Gerichtstympanon als Malefiz-Gebärde, bei der Zeige- und Mittelfinger gestreckt nach unten gehalten werden, um ein drohendes Übel abzuwehren bzw. weiterzuleiten. Hier ist für realienkundliche, ikonographische, rechtshistorische und viele andere Forschungen ein weites Feld. Denn der Blick auf den Vorbildbereich der Bamberger Skulpturen war zu ausschließlich auf Reims eingeengt und rein „kunsthistorisch“ gedeutet. Doch ähnelt z.B. der Zug der Verdammten in Reims dem in Bamberg nur im Was, nicht im Wie.

Selbst die Geschichte der künstlerischen Beziehungen bietet jedoch durchaus noch Möglichkeiten: Frau Diemer hat selbst auf noch nicht genau genug erforschte Verbindungen nach Italien hingewiesen, v. Winterfeld auf niederösterreichische und groß-ungarische Nachfolgewerke.

Die Darstellung der Geschlechter in der Bamberger Domskulptur war m.W. noch nie Gegenstand einer eigenen Studie. Für Frau Diemers Positivismus ist eine derartige Fragestellung offenbar zu „tagespolitisch“: Auch wenn sie kaum zu beantworten sein wird und eigentlich nicht in ein Kunstdenkmäler-Inventar gehört, ist zumindest der Versuch zu fordern. Schon der Vergleich von Adam und Eva erfordert das. Die Urmutter wird als selbstbewusste, stolze Frau dargestellt, nur Kunigunde vergleichbar. In dieser von großen Frauen so stark geprägten Epoche z.B. lebte die hl. Elisabeth von Ungarn bzw. Thüringen eine Zeitlang bei ihrem Onkel, Bischof Ekbert von Andechs-Meranien, dem Miterbauer des Domes, in Bamberg.

Die Autorin hat wenig Sinn für die „Révolution gothique“ – so der Titel des neuen Buches von Alain Erlande-Brandenbourg – der Skulptur, die die Einführung der neuen französischen Bildhauerei damals bedeutete. Die Menschen in Franken hatten in den Jahren um 1220 allenfalls romanische Kreuze, Marienkultbilder und einige Wandmalereien gesehen. Man wüsste gerne, wie diese Zeitgenossen des Franz von Assisi auf die beinahe physische Gewalt des plastischen und farbigen Realismus reagiert haben und erst recht auf die dramatische Erzählung des Jüngsten Gerichts.

Kurz noch zu dem bereits erwähnten Bamberger Reiter: Man kann nicht ernstlich behaupten, dass der ohne Geschenk und Attribut einreitende Bamberger Reiter nun durch die Argumentation von Frau Diemer als einer der Heiligen Drei Könige erwiesen wäre. Frau Diemer hat ihre Thesen bisher nur in Vorträgen vorgestellt wofür ein Inventar nicht der richtige Ort ist. Deshalb kann darauf nicht abschließend eingegangen werden. Die These ist so alt wie die Diskussion um die Deutung der Statue. Ich zweifle, ob es ihr gelingt, neue und überzeugendere Argumente zu finden. Gleichgültig, wen man wohin platziert, für die Besucher, die am Grab der hl. Kunigunde beten wollten, würde der Diemersche Domlettner zum monumentalen Pferdestall. Nicht ohne Grund sind Reiterstatuen im Inneren mittelalterlicher Kirchen äußerst selten. Die These setzt zudem einen genau geplanten Bildersturm voraus, von dem wir sonst keinerlei Nachricht haben. Deshalb bleibt die von Renate Kroos vorgenommene Deutung des Reiters als hl. Stephan von Ungarn bis auf Weiteres die plausibelste.

In dem vom Herausgeber des Bandes, Matthias Exner, verfassten Teil, dem Bamberger Domschatz, spitzt sich das Problem dieses Inventars noch einmal zu. Es gibt von allen (!) dort abgebildeten Buchmalereien und Goldschmiedearbeiten vorzügliche Farbabbildungen, oft als Digitalisate in Faksimile-Qualität. Konnte diese hervorragend erforschte Epoche der deutschen Buchmalerei hier nicht ausgespart werden, zumal fast nichts davon in Bamberg erhalten ist? Hätte nicht eine Liste mit bibliographischen Angaben genügt? Zumal der Autor die in den letzten Jahrzehnten aufgekommene kritische Diskussion zur Chronologie, zu den Auftraggebern und zur Herkunft sowie zur Lokalisierung der Handschriften ausgelassen hat. Die Frage des Herstellungsortes ist jedoch ohne Untersuchung des Baseler Antependiums und verwandter Stücke nicht zu lösen.

Von dem Wandmalerei-Spezialisten Exner hätte man sich ein klärendes Wort zur merkwürdigen Pinselzeichnung auf der Wand oberhalb des Scheitelfensters im Ostchor, also an sehr prominenter Stelle, gewünscht. Im Inventarband heißt es dazu nur: „… links ein seltsam hockender, bärtiger Mönch, der nach oben schaut; seine lange, spitze Kapuze fällt ihm in den Nacken. Die gefalteten Hände streckt er nach oben. Rechts davon, scheinbar heranfliegend eine Frauengestalt, die eine Kopfbedeckung mit Kinnbinde und Schleier trägt und mit beiden Händen kräftig einen großen Blattwedel umfasst. Die als Konturzeichnung begonnene Malerei ist unvollendet, ihr ikonographischer Zusammenhang unklar. Stilistisch gehört sie in das 13. Jahrhundert.“ (Abb. 842, S. 586) Dargestellt ist jedoch kein Mönch, denn dann müsste er gegürtet sein, ein Skapulier, eine Kukulle oder ein anderes seine Ordenszugehörigkeit kenntlich machendes Zeichen tragen. Ein mit einem Kapuzenmantel gekleideter, bärtiger Mann, der auf einem schräg gehaltenen Baum sitzend durch die Lüfte fliegt, an seiner Seite eine alte, eher unordentlich verschleierte Frau, ebenfalls auf einem ausgerissenen Baum fliegend. Dieses Paar ist wohl nur als Hexenmeister mit einer Hexe auf dem Weg zum Blocksberg zu deuten, kann aber unmöglich aus dem 13. Jahrhundert stammen. Aber wer ist der Urheber? Gibt es eine Verbindung zu den apotropäischen Köpfen in den Gewölben? Und was wurde mit der Anbringung im Apsisscheitel des Peterschores bezweckt?

Dieses Inventar ist mit außerordentlichem Fleiß und großer Genauigkeit zusammengetragen worden. Und doch kommen Bedenken auf: Wer sieht sich in der Lage, die über 300 einigermaßen ernst zu nehmenden Literaturtitel beispielsweise zum Bamberger Reiter zu lesen und obendrein die Hundertschaft mehr oder weniger phantasievoller ‚Erleuchtungen‘. Andererseits: wer es wirklich wissen will, findet hier einen schnellen Zugriff zu allen Fragen des Doms und eine bequem zugängliche Informationsmöglichkeit über die betreffende Literatur, wie sie das Internet (noch) nicht bietet.


Empfohlene Zitation:
Robert Suckale: [Rezension zu:] Exner, Matthias (Hrsg.): Stadt Bamberg, Bd. 2: Domberg, 1. Drittelbd.: Das Domstift. Teil 1: Baugeschichte, Baubeschreibung, Analyse (= Die Kunstdenkmäler von Bayern, Regierungsbezirk Oberfranken IV), Berlin/München 2015; Exner, Matthias (Hrsg.): Stadt Bamberg, Bd. 2: Domberg, 1. Drittelbd.: Das Domstift. Teil 2: Ausstattung, Kapitelsbauten, Domschatz (= Die Kunstdenkmäler von Bayern, Regierungsbezirk Oberfranken IV), Bamberg 2015. In: H-ArtHist, 22.02.2016. Letzter Zugriff 03.03.2016. <http://arthist.net/reviews/10811>.

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2 Gedanken zu „Führende Forscher halten Deutung des Bamberger Reiters als hl. Stephan von Ungarn bis auf Weiteres als die plausibelste

  1. Die Suckale -Rezension kommt äußerst lesenswert, weil plausibel, höchst erfrischend und ergo spannend daher. Ein Lesegenuss! Die Spannung entsteht nicht durch Tradierung alter Inhalte, Methoden und Denkmuster, sondern durch formale wie auch inhaltliche Reibung und Kritik daran. Es wurde Zeit, dass ein Kunstgeschichtler aufräumt mit dem „vor mehr als hundert Jahren formulierten Leitfaden für die Inventarisierung der bayerischen Kunstdenkmäler“, wie er sich lt S. leider immer noch hier am erst kürzlich erschienenen Bamberger Domstift Inventar festmachen lässt. Jetzt schon erwartbar ganz im Gegensatz zum Regensburger Dominventar! Endlich positioniert sich unmissverständlich und ohne Blatt vor den Mund ein Kunstgeschichtler gegen inhaltlich und formal erstarrte, langweilig unleserliche und „sog. kunstgeschichtliche“ Denkmalpfleger- Rituale. Es wird Zeit, dass „die“ (bayerisch- „Bamberger“) Denkmalpflege zur Kenntnis nimmt, besser noch: endlich begreift, dass mittlerweile 40 Jahre moderne denkmalpflegerische Restaurierungs-, Methoden- und Ideologiegeschichte (zB à la Suckale) nicht sang- und klanglos an uns vorübergezogen sein können/dürfen.
    Danke BOZ!

  2. Ich wüßte wirklich gern, was die Zeitgenossen der Künstler rund um den Bamberger Dom sagen würden, wenn sie wüßten, wie wir uns mit der Deutung der Figuren, der Epoche, der Zeitgeschichte abmühen. Ob es ihnen gleichgültig wäre, ob sie sich freuen würden, ob sie sich wunderten, daß wir es nicht sofort verstehen?

    Jedenfalls ist die Betrachtung der Geschichte zur Bewertung der Gegenwart immer noch hilfreich.
    Und wenn sie gut gemacht ist und nicht nur Jahrmarkt der Eitelkeiten ihrer Ersteller, auch erfreulich.
    Mögen dem Band trotz seiner Schwächen aufmerksame Leser bescheiden sein.

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